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«Mit 16 schwor ich mir, dass ich nie meine Träume verrate»

Die ersten Traumberufe liess sie sich ausreden, doch dann traf Sigrun Gudjonsdottir in einem Schneiderkurs auf lauter Frauen, die mit ihrem Schicksal haderten, und schwor sich, es besser zu machen. Die Isländerin studierte Architektur, lernte programmieren, wurde Chefin einer Softwarefirma. Nach einem Treffen mit Carlos Ghosn, dem Konzernchef von Renault-Nissan, erhielt sie ein verlockendes Angebot – und verzichtete. Doch auch als Ein-Frau-Unternehmerin verfolgt sie hohe Ziele. Das nächste lautet: 1 Million Dollar Umsatz.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


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Frau Gudjonsdottir, Sie sind sehr erfolgreich mit Coachings und Online-Seminaren für Frauen und begleiten Ihre Kundinnen auf dem Weg «from passion to profit». Sind Frauen zögerlicher, wenn es darum geht, mit ihrer Leidenschaft Geld zu verdienen?
SIGRUN GUDJONSDOTTIR: Diese Erfahrung mache ich, ja. Männer haben in der Regel keine Hemmungen zu sagen: «Dieser Kurs kostet 2000 Dollar, ich bin ja ein Experte.» Frauen tendieren dazu, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob 500 Dollar nicht doch etwas viel sind. Das ist Bescheidenheit am falschen Ort. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche bietet für die Frauen hervorragende Möglichkeiten, ein gutes Business aufzubauen, ohne jeden Tag in ein Büro zu fahren. Ich mache heute das Meiste aus dem Home-Office in der Schweiz heraus, ein Computer, ein Mikrofon und eine Kamera reichen aus. Drei Monate lebe ich in Island, manchmal bin ich in Dubai oder Los Angeles. Für die Tausenden von Unternehmern, die an meinen Webinaren teilnehmen, macht das keinen Unterschied.

Wie kam es, dass Sie sich darauf spezialisierten, mit Frauen smarte Geschäftsmodelle zu entwickeln?
Die Frage nach dem Warum versteht man erst oft viel später. Vor ein paar Jahren hätte ich noch gesagt: Es war eine Verkettung vieler Zufälle. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es gibt immer ein «Why», das uns antreibt. Bei mir hat ein Jugenderlebnis die Weichen gestellt: Ich begann mit 13 Jahren, Kleider zu nähen. Mit 16 Jahren wollte ich professioneller werden. Also besuchte ich um 19 Uhr, direkt nach dem Gymnasium, einen Kurs bei einer erfolgreichen Schneiderin. Ich war die einzige unter 40 Jahren und wunderte mich über die Gespräche der älteren Frauen. Alle hatten sich von ihren Träumen verabschiedet und gaben scheinbar gute Gründe dafür an: die Hochzeit, die Familie, die Kinder, der dominante Chef etc. Ich schwor mir in diesem Kurs, dass mir das nie passierend wird; dass ich nie nach Ausreden werde suchen müssen, weil ich zu wenig mutig gewesen bin. Es ist nicht das Schicksal, das uns einen Streich spielt, es sind meistens unsere Ängste.

War wirklich dieses Erlebnis ausschlaggebend, als Sie später in die IT-Branche einstiegen und mutig den Chefposten anstrebten?
Es braucht immer viele Mosaiksteinchen. Eines ist meine Nationalität. Ich erinnere mich noch gut, wie 1980 in Island Vigdís Finnbogadóttir zur Präsidentin gewählt wurde. Sie war das erste demokratisch gewählte weibliche Staatsoberhaupt weltweit, nur neun Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Meine Mutter und ich gingen an diesem Tag zum Haus der neu gewählten Präsidentin, um zu applaudieren. Und ich dachte: Wenn diese Frau unser Land führen kann, dann stehen mir auch viele Türen offen. Und dann natürlich Björk, die Musikerin. Sie inspiriert mich bis heute. Ohne sie hätte ich mich wohl nicht getraut, meinen Vornamen zur Marke zu machen.

Wussten Sie früh, dass Sie eine Wirtschaftskarriere anstreben wollen?
Nein, in der Kindheit wollte ich Schriftstellerin werden. Ich war unglaublich stolz, als meine erste Kindergeschichte, die ich als Sechsjährige geschrieben hatte, am Radio gelesen wurde. Beim Schreiben war ich in meiner eigenen Welt und ganz in meinem Element, aber bald liess ich mich davon überzeugen, dass das kein richtiger Beruf sei und man nicht davon leben könne. Dann wollte ich Lehrerin werden – und sah kurz später, wie die Lehrer streikten, weil sie nicht von ihrem Lohn leben konnten. Damit hatte sich auch dieser Traumberuf erledigt. Meine Träume waren damals nicht stark genug, um den Ratschlägen der Älteren und den negativen Stimmen in meinem Kopf standzuhalten. Mit 11 Jahren schliesslich zeichnete ich leidenschaftlich gerne Traumhäuser. Mir war klar, dass ich Architektin werden wollte. Während eines Ferienaufenthalts in Freiburg schwor ich mir, neun Jahre später zurückzukommen und Architektur zu studieren.

Und daran haben Sie sich gehalten?
Ja, mit 20 Jahren reiste ich nach Freiburg, lernte ein Jahr lang Deutsch und studierte dann Architektur in Karlsruhe. Die Vision der 11-Jährigen war stark genug gewesen, um neun Jahre zu überstehen. Im Studium dagegen bröckelte meine Vision bald. Uns wurde vor allem vermittelt, was wir alles nicht können. Immerhin konnte ich während der Semesterferien in Island in Architekturbüros arbeiten. Dort wurden mir zwei Dinge klar: dass es ein sehr volatiles Business ist, in dem je nach Projektvergabe manchmal die Löhne nicht bezahlt werden können; und dass der grösste Teil der Arbeit nicht viel mit Kreativität zu tun hat. Zum Glück gab es damals, Ende der Neunzigerjahre, ein neues Thema, das mich vollkommen in seinen Bann zog: das Internet. Ich war hin und weg, machte meine Diplomarbeit an der Informatikfakultät und erhielt ein Stipendium für ein Nachdiplomstudium an der ETH in Zürich. Wir hatten dort schon vor 15 Jahren einen 3D-Drucker. Er war so gross wie ein Schulzimmer und konnte ein Miniaturhaus drucken.

Warum blieben Sie nicht an der ETH?
Ich kehrte aus familiären Gründen nach Island zurück und fand eine Stelle in einem Startup. Während andere einfach ihren Job machten, nervte ich meinen Chef mit Fragen wie: Woher kommt eigentlich unser Geld? Und warum können unsere Programmierer nicht programmieren? Es war das Ende der Internetblase, und kurz später war die Firma fast pleite und ich ohne Job. Ich absolvierte einen Unternehmerkurs, spielte mit dem Gedanken an die Selbständigkeit, nahm aber schliesslich eine Stelle in einem 20-Mann-Softwareunternehmen an. Wieder hatte ich Pech: Kein Jahr später wurde die Firma verkauft und ich machte mir Sorgen, dass der neue Besitzer einen Chef einsetzt, der die Verhältnisse nicht kennt. Ich erinnerte mich an die Geschichten im Nähkurs von damals und dachte: Was wäre, wenn ich mich um den CEO-Posten bewerben würde? Es gab sofort Stimmen, die das eine völlig verrückte Idee nannten – weibliche Stimmen in meinem Umfeld und die Stimmen in meinem Kopf. Die Männer dagegen ermutigten mich.

Und Sie bekamen den Job?
Ich schrieb eine zweiseitige Bewerbung und hörte danach erst einmal drei Wochen lang nichts. In dieser Zeit sind die negativen Stimmen immer lauter geworden. Dann besuchte der Investor ausgerechnet an jenem Tag unsere Firma, an dem ich extern unterwegs war. Ich machte seine Telefonnummer ausfindig, nahm all meinen Mut zusammen, rief ihn an und bat ihn um ein Gespräch. Er erschien dann gleich mit seinem Anwalt – zwei Wochen später hatte ich den Job. Hätte ich mich nicht so aktiv darum beworben, wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, mich zu fragen.

Haben Sie anders geführt als Ihre männlichen Vorgänger?
Ja, eindeutig. Ich habe zum Beispiel vielen Quereinsteigerinnen eine Chance gegeben, weil die motiviert und belastbar sind. Das fehlende Fachwissen konnten sie sich rasch aneignen. Den Programmierern ohne Schulabschluss habe ich ermöglicht, ein Informatikstudium zu belegen. Grundsätzlich stand bei mir immer die Sache im Vordergrund, nie mein Ego oder mein Status. So habe ich einen elf Jahre älteren Universitätsdozenten als technischen Leiter engagiert, um unser Unternehmen auf ein höheres Level zu bringen. Dass er mehr verdient hat als ich, war für mich kein Problem. Elf Monate, nachdem ich die Verantwortung für die Firma übernommen hatte, kehrten wir in die schwarzen Zahlen zurück. Im nächsten Jahr wuchsen wir um 40 Prozent und fanden nicht mehr genug Programmierer.

Trotzdem wurden Sie am Ende als Chefin entlassen – was ist da passiert?
Es war eine sehr turbulente Zeit. Der Investor, der unsere Firma gekauft und mich als Chefin eingesetzt hatte, vertraute mir noch ein zweites Unternehmen zur Führung an – eine der grössten IT-Firmen Islands. Ich sah rasch, dass dort die Trendwende nicht gelingen würde. Also ging ich zurück und steigerte die Profitabilität des kleineren Unternehmens noch weiter. Parallel dazu absolvierte ich ein MBA an der London Business School. Auf meinen Vorschlag hin wurde die Firma verkauft. Die neuen Besitzer wollten mich zwingen, neue Arbeitsverträge zu deutlich schlechteren Konditionen durchzusetzen. Ich stellte mich quer, weil ich mich meinem Team gegenüber verantwortlich fühlte, was zur Folge hatte, dass ich entlassen wurde. Daraufhin zog ich nach London und konzentrierte mich ganz auf mein MBA…

…und dann wären Sie um ein Haar Chefin einer Automarke geworden.
Ja, das war noch so ein Moment, in dem ich komplett unkonventionell vorging und dafür belohnt wurde. Einer der Gastredner in der MBA-Ausbildung war Carlos Ghosn, der Konzernchef von Renault-Nissan. Er sprach über Turnaround-Management, und nach seinem Auftritt wurde er umringt von jungen ehrgeizigen Studenten. Ich nahm mein Herz in die Hand, ging schnurstracks auf ihn zu und sagte zu ihm: «Hey, ich bin Sigrun und ich habe auch an Turnarounds gearbeitet.» So sind wir Isländer halt, wir erstarren nicht in Ehrfurcht vor mächtigen Menschen. Vermutlich half es auch, dass ich die einzige Frau in der Runde war. Jedenfalls nahm er sich Zeit für mich, stellte mir ein paar Fragen und gab mir anschliessend seine Visitenkarte. Einige Wochen später bot er mir dann tatsächlich an, die Verantwortung für Nissan Schweden zu übernehmen.

Warum haben Sie abgelehnt?
Weil ich mir zum Glück in der Zwischenzeit die Frage stellte, ob das wirklich das Leben war, das mir vorschwebte: allein in Schweden zu sitzen und eine Autofirma zu führen. Lange hatte ich davon geträumt, Chefin eines Unternehmens mit 500 oder 1000 Angestellten zu werden. Ich wollte als Geschäftsfrau ein Vorbild für andere Frauen sein, etwas Bedeutendes erreichen. Aber in London wurde mir bewusst, dass mein Lebensentwurf einseitig auf berufliche Performance ausgerichtet war. Es fehlte die Abwechslung, das seelische Wachstum, die Sinnkomponente und die Partnerschaft. Dies wurde mir in einem Seminar des Bestseller-Autors und Coachs Tony Robbins klar. Und der Zufall wollte es, dass ich in diesem Seminar neben einem freundlichen Mann sass, der später mein Ehemann werden sollte. So kam ich wieder in die Schweiz statt nach Schweden, hatte zwar keinen CEO-Job, aber Schmetterlinge im Bauch.

Das war Ihr Start in die Selbständigkeit?
Noch nicht, ich übernahm in Zürich noch einmal eine Geschäftsführung, aber dann streikte mein Körper. Ich hatte derart starke Schmerzen in Nacken, Schultern und Armen, dass ich sieben Monate nicht arbeiten konnte. Später folgte eine Phase der Arbeitslosigkeit. Meine Bewerbungen blieben ohne Echo, vermutlich wollte niemand eine Frau einstellen, die vier Uniabschlüsse und 10 Jahre CEO-Erfahrung mitbrachte. So war ich ganz auf mich zurückgeworfen, hatte viele Ideen, aber kein Geschäftsmodell. Schliesslich begann ich im September 2013 aus Frust zu bloggen. Das waren keine Expertentexte, sondern eher ein öffentliches Nachdenken über meine Situation. Die Zugriffe auf meine Beiträge schnellten so schnell in die Höhe, dass mir rasch klar wurde: da habe ich einen Nerv getroffen. Die Frage, wie man seine Leidenschaft in ein Business transformieren kann, beschäftigt sehr viele Frauen.

Und Sie haben mit der Zeit eine Antwort auf diese Frage gefunden?
Ich merkte bald, dass ich bei anderen sehr viel klarer sah, was zu tun war, als bei mir selber. Eines Tages setzte ich einen Button auf meine Website: «Eine Stunde Online-Coaching: 180 Dollar.» Als der Button erstmals angeklickt wurde, war ich elektrisiert – es war das wichtigste Signal für mein Unterbewusstsein, dass es funktionieren kann. Dann weitete ich das auf sechs Stunden Coaching aus, entwickelte schliesslich einen einwöchigen Online-Kurs. Weil ich nicht sicher war, wie gut das funktionieren würde, führte ich ihn ein erstes Mal mit 134 Teilnehmerinnen gratis durch. Die Rückmeldungen waren so euphorisch, dass ich den Preis sukzessive anhob: via 99 Dollar auf 149 und 300 Dollar. Im Juli 2014 startete ich mit Webinaren. Da zeige ich den Kundinnen live, wie sie durch gezielten Einsatz von Social Media, Facebook-Werbung und Mailing-Versand ihre Kundenbasis ausbauen. In eineinhalb Jahren habe ich bereits 64 solche Webinare mit Tausenden von Teilnehmern durchgeführt.

An Ehrgeiz mangelt es Ihnen auch in der Selbständigkeit nicht. Wo soll die Reise hingehen?
Dieses Jahr verdopple ich den Umsatz vom letzten Jahr 2016 soll es eine halbe Million Dollar werden. Das Ziel ist klar: 1 Million Dollar Umsatz und dann irgendwann ein Auftritt in der Talkshow von Oprah Winfrey. Ich könnte es mir jetzt gemütlich machen und stolz über das Erreichte sein. Aber ich mag es, mich unter Druck zu setzen, Risiken einzugehen und mir die Ziele extrahoch zu setzen. Entsprechend treffe ich auch vorwiegend Menschen mit eigenen Unternehmen und grossen Ambitionen. Das hat einen grossen Einfluss. Du tickst so wie der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen du am meisten Zeit verbringst. Es ist also deine Entscheidung, ob du klein blieben und darüber schimpfen oder etwas Grosses erreichen willst. Mein Motto ist: Be Inspired. Think Big. Take Action. Wichtig ist, dass man nicht der Illusion aufsitzt, alles alleine schaffen zu müssen. Ich habe mir in einer Phase, als ich wenig Geld hatte, ein Business Coaching gegönnt. So lernte ich, mich selber besser zu verkaufen und nur noch die Dinge zu tun, bei denen ich wirklich den Unterschied ausmachen kann. Für alles andere habe ich meine drei Assistentinnen in England, Kanada und Portland (USA).


19. und 26. Dezember 2015