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«Erfolg kann sehr berauschend sein»

Alain Chuard verkaufte seine Firma Wildfire für 450 Millionen Dollar an Google und arbeitete drei Jahre für den Konzern. Nun gönnt er sich mit seiner Frau und seiner Tochter eine Auszeit und «investiert in Erfahrungen und Beziehungen», wie er im Interview sagt. Gemeinsam mit dem Berner Unternehmer Christian Hirsig lanciert der 42-Jährige das Projekt Swisspreneur.org. Die Video-Portraits von Unternehmern sollen die eher risikoscheuen Schweizer dazu ermutigen, trotz der Gefahr des Scheiterns neue Produkte und Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg




Von Wildfire via Google zu Swisspreneur.org

Externe Seite: swisspreneur-ep03-mykenaef.jpg

Nach der obligatorischen Schulzeit besuchte der 1974 geborene und in Bolligen bei Bern aufgewachsene Alain Chuard das Freie Gymnasium Bern. Seine Ausbildung setzte er am Macalester College in St. Paul im US-Bundesstaat Minnesota erfolgreich fort. Er schloss sein Studium mit einem Bachelor in Ökonomie und Mathematik ab. Gut zwei Jahre war er danach als Finanzanalyst für die Investmentbank Salomon Smith Barney in New York tätig. Es folgte ein Masterstudium an der Stanford Graduate School of Business. Der grosse Wurf gelang dem ehemaligen Snowboarder und seiner aus Neuseeland stammenden Ehefrau Victoria Ransom mit der 2008 gegründeten Firma Wildfire, die er 2012 für 450 Millionen Dollar an Google verkaufte. Nach drei Jahren bei Google verliessen Chuard und seine Frau den Konzern im Oktober 2015, um sich eine Auszeit von einem Jahr zu nehmen. Wildfire existiert nicht mehr als eigene Firma, sondern wurde in die Einheit «Double Click» integriert, die auf Display-Werbung spezialisiert ist. Nun lanciert Chuard gemeinsam mit Christian Hirsig, dem Mitgründer der Crowdsourcing Plattform Atizo, das Projekt Swisspreneur.org. Mit monatlichen Filmporträts von erfolgreichen Schweizer Unternehmern wollen Chuard und Hirsig unternehmerische Initiativen in der Schweiz fördern. Die ersten drei Porträts zum Auftakt stellen die Unternehmer Myke Näf (Doodle), Dania Gerhardt (Amazee) und Alain Chuard selber vor.

Was ändert sich im Leben, wenn man nicht mehr arbeiten muss, um Geld zu verdienen?
Meine Frau und ich haben versucht, im Alltag möglichst wenig zu ändern nach dem Verkauf unserer Firma an Google vor vier Jahren. Wir fahren zum Beispiel immer noch unseren Nissan Leaf. Meine Erfahrung ist: Je weniger du besitzt, desto freier und flexibler bewegst du dich – nicht nur physisch, sondern auch mental.

Es hat sich also trotz 450 Millionen Dollar auf dem Konto nichts geändert?
Doch, wir sind heute freier beim Nachdenken über unsere Zukunft. Wir können uns auf die Frage konzentrieren, wo wir künftig einen grossen positiven Einfluss auf die Gesellschaft ausüben können.

Letzten Sommer haben Sie Google nach den vertraglich vereinbarten drei Jahren verlassen. War es so schlimm für Sie als Unternehmer, in Konzernstrukturen zu arbeiten?
Nein, überhaupt nicht. Ich war sehr beeindruckt, wie viele sehr smarte und leistungsstarke Leute bei Google arbeiten und wie es das Unternehmen schafft, trotz über 60 000 Mitarbeitern agil zu bleiben und jedem Einzelnen grosse Freiheiten zu lassen. Besser hätte ich es als Unternehmer nicht treffen können.

Das klingt idyllisch, aber Sie hatten doch den Auftrag, bei der Integration der Firma Wildfire und später als Produktverantwortlicher im Geschäftsfeld Google My Business die Vorgaben Ihrer Chefs zu erfüllen.
Natürlich gibt es strategische Vorgaben und Ziele. Aber mir hat nie jemand dreingeredet bei der Frage, wie ich diese Ziele erreichen will. Die Google-Gründer sind Ingenieure und Visionäre, keine Mikro-Manager, entsprechend lassen sie ihren Mitarbeitern viel Freiraum. Zudem ist es eindrücklich, wie weit die Strategen bei Google vorausdenken. Die beschäftigen sich nicht mit dem nächsten Jahr oder dem nächsten Quartal, sondern sie haben einen Horizont von mindestens 10 Jahren und arbeiten an Projekten, die dann unser Leben verbessern und vereinfachen werden. Ich kann deshalb nichts Schlechtes über Google sagen und würde es jedem jungen Menschen empfehlen, dort zu arbeiten.

Warum haben Sie Google verlassen nach den drei Jahren?
Meine Frau und ich haben seit 2008 enorm hart gearbeitet, vier Jahre beim Aufbau von Wildfire von 0 auf 400 Angestellte, danach ging es nahtlos weiter bei Google. Nach sieben Jahren Vollgas brauchten wir eine Pause, zumal vor zwei Jahren unsere Tochter zur Welt gekommen ist. Erfolg kann sehr berauschend sein, aber wenn du ihm hinterherrennst und stets die Dosis zu steigern versuchst, macht er dich kaputt. Wir haben uns deshalb eine einjährige Auszeit geschenkt und uns davor geschützt, gleich wieder in ein nächstes Projekt einzusteigen.

Ist das nicht eine Qual für zwei ehrgeizige Menschen, ein Jahr lang nichts Zählbares zu schaffen?
Wir sehen das als grosses Privileg und geniessen es bis jetzt sehr. Wir haben ganz bewusst in zwei Dinge investiert für dieses Jahr: Erfahrungen und Beziehungen. Beides kommt zu kurz, wenn man pausenlos performen will. So haben wir letzten Herbst unser Haus in Palo Alto im Silicon Valley verkauft, sind nach Japan, Island und Costa Rica gereist; diesen Frühling und Sommer waren wir in Europa unterwegs, haben in Amsterdam, in Verona, in Apulien, am Comersee, in Berlin, Paris und nun in der Provence gelebt, wobei wir jeweils rund zwei Wochen an einem Ort blieben und von einer Airbnb-Unterkunft in die nächste zogen. Reisen bildet nicht nur kulturell, man bricht damit auch seine Routinen. Es konfrontiert dich permanent mit Neuem, Unerwartetem, öffnet deinen Fokus.

Und wie verändert sich die Beziehung, wenn man nicht mehr Geschäftspartner ist, sondern im Alltag die Rollen neu aushandeln muss?
Das war kein Problem. Meine Frau und ich kennen uns seit über 15 Jahren, wir teilen viele Aktivitäten, Werte und Erfahrungen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben. Wir sind sehr happy, Zeit mit unserer Tochter verbringen zu können – viele beruflich stark eingespannte Eltern im Silicon Valley haben die Erziehung fast komplett an Nannys delegiert. Wir waren aber nicht nur zu dritt unterwegs, sondern haben auch Eltern, Schwiegereltern und Freunde eingeladen, Zeit mit uns zu verbringen.

Und wer kümmert sich um die 450 Millionen Dollar? Es soll ja eine anstrengende Sache sein, viel Geld zu haben.
Wer zu Wohlstand kommt, hat eine gesellschaftliche Aufgabe und einen Verwaltungsjob. Auf gesellschaftlicher Ebene versuchen wir, viel zurückzugeben, in unserem Umfeld, durch unternehmerische Initiativen und in Hilfsprojekten wie jenem in Haiti, wo wir uns engagieren für den weiteren Ausbau von Heimen für Waisenkinder. Um die Geldverwaltung kümmern wir uns nicht selber, das haben wir einem sehr erfahrenen Anlageberater übertragen, der das Geld nach ähnlichen Prinzipien anlegt wie Warren Buffett, also mittel- und langfristige Anlagen in grosse, hochwertige Unternehmen. So müssen wir uns nicht darum kümmern, ob irgendwelche Kurse nun kurzfristig steigen oder tauchen.

Jetzt lancieren Sie trotz Auszeit mit dem Berner Unternehmer Christian Hirsig das Projekt Swisspreneur.org und verbreiten Filmporträts von erfolgreichen Unternehmern. Was wollen Sie damit bewirken?
Wir wollen das Unternehmertum in der Schweiz stärken. Es gab zuletzt zwar eine positive Entwicklung bei den Firmengründungen und es gibt schon viele Start-up-Wettbewerbe und Gründerzentren, aber die Schweizer Mentalität ist nicht sehr förderlich für all diese Projekte. Über allem anderen stehen in der Schweiz das Sicherheitsdenken und der Komfort. Die Haltung, die junge Leute zu spüren bekommen, lautet: «Mach zunächst die bestmögliche Ausbildung und finde dann einen gut dotierten Job.» Aber wer sagt denn, dass es der beste Weg ist, bis 25 oder 28 die Schulbank zu drücken und sich dann anstellen zu lassen?

Also raten Sie den Schweizern, auf die Uni zu verzichten und sich nie anstellen zu lassen?
Nein, darum geht es nicht, wir wollen ihnen mit Swisspreneur Vorbilder zeigen, welche die Lust wecken auf Unternehmertum. Die Risikoaversion vieler Schweizer bringt es mit sich, dass Scheitern hier stigmatisiert wird, als schwarzer Fleck im Lebenslauf gilt. Im Silicon Valley werden Unternehmer bewundert, die Firmen gegründet und damit Schiffbruch erlitten haben – weil sie mutig waren, Erfahrungen gesammelt und hoffentlich etwas gelernt haben. Derzeit erleben wir, wie radikal die technischen Innovationen aus dem Valley unsere Wirtschaft und unsere Arbeitswelt verändern. Viele klassische Jobs von heute werden in den nächsten 10 Jahren verschwinden. Umso wichtiger wird es sein, dass wir in der Lage sind, unternehmerisch auf diese Herausforderung zu reagieren und neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Dazu wollen wir mit unserer Non-Profit-Organisation beitragen, indem wir jeden Monat einen Schweizer Unternehmer in einem 30- bis 60-minütigen Videoporträt vorstellen.

Eine Swisspreneur-Folge pro Monat in der Schweiz produzieren und verbreiten – ist das die neue Bescheidenheit des Erfolgsunternehmers aus dem Silicon Valley? Geht das nicht unter im Meer von Schweizer Start-up-Förderinitiativen?
Wir sehen für diesen Ansatz eine klare Marktlücke. Es gibt viele Inkubatoren und Accelerators, aber kaum gut aufbereitete Geschichten von Vorbildern. Wir haben in der Schweiz ohnehin grosse Mühe, jemanden zu feiern für das, was er erreicht hat, wir identifizieren uns leichter mit dem Durchschnitt als mit Spitzenleistungen. Auch deshalb ist uns die Initiative wichtig. Zudem sind wir gut darin, die Porträts auf allen digitalen Kanälen breit unter die Leute zu bringen – das knüpft an unser Kerngeschäft bei Wildfire an. Die Eindrücke, die das Publikum erhält, wenn es Unternehmern sozusagen in den Kopf schauen kann, sollen ein Gegengewicht sein zu dem, was uns Eltern und Lehrer gerne eintrichtern.

Was haben Sie sonst beruflich vor nach Ablauf der Auszeit im Herbst?
Derzeit habe ich nichts anzukündigen. Ich geniesse das Unterwegssein, das Surfen, und lasse mich inspirieren. Die Welt steckt voller interessanter Themen, ob dass nun die Genetik, das 3-D-Druckverfahren, die künstliche Intelligenz, die Entwicklung von Robotern oder die Vermischung von Realität und Virtual Reality ist. Entscheidend wird für mich die Frage sein, wo ich den besten Hebel sehe, etwas voranzubringen, das vielen dient. Das grösste Abenteuer wird mit Sicherheit die Geburt unseres zweiten Kindes Ende November sein.


3. September 2016