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«Die Digitalisierung zwingt uns, zur Vernunft zu kommen»

«Wer sich früh angewöhnt, seine Bedürfnisse zu unterdrücken, hat in hierarchischen Organisationen die besten Karrierechancen», sagt der Neurobiologe Gerald Hüther. Durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt seien wir alle indes neu herausgefordert, nicht wie Maschinen zu funktionieren, sondern uns auf unsere wahren Stärken zu besinnen.

Interview: Mathias Morgenthaler  Foto: Michael Liebert


Kontakt und weitere Informationen:
www.gerald-huether.de

Das Buch zum Thema:
Gerald Hüther: Etwas mehr Hirn, bitte. Vandenhoeck&Ruprecht, 2017.

Herr Hüther, Sie haben ein Buch übers Schenken geschrieben. Was soll man Kindern schenken, die schon alles haben?
GERALD HÜTHER: Hilfreich ist, sich selber zu fragen, welche Geschenke aus der frühen Kindheit einem noch in Erinnerung sind. Die Meisten können sich nicht an ein materielles Geschenk erinnern, sondern an das Spielen mit ihrem Grossvater unter dem Weihnachtsbaum oder an den Ausflug zum See, wo man gemeinsam eine Hütte gebaut hat. Solche Erinnerungen sind auch nach 50 Jahren noch präsent – offenbar sind das die wertvollsten Geschenke. Ich halte es für problematisch, wie sehr wir heute den Fokus auf materielle Dinge legen und diese in der Weihnachtszeit durch die feierliche Verpackung auch noch emotional aufladen. Dadurch fördern wir den Irrglauben, dass Dinge, die man sich kaufen kann, glücklich machen.
 
Sie raten also zum Konsumverzicht?
Die massiven Probleme, die wir uns selber eingebrockt haben, die Klimaerwärmung, das Artensterben und die Vermüllung der Erde, lassen sich jedenfalls nicht abwenden, indem wir durch brave Arbeit unsere Kaufkraft steigern und mehr konsumieren. Wenn wir uns nicht weiter der Grundlagen unserer Existenz berauben wollen, müssen wir damit aufhören, unsere Kinder schon in jungen Jahren zu bedürftigen Konsumenten zu machen. Die Alternative kostet weniger Geld, nur etwas Überwindung: Statt unsere Sehnsüchte, unser ungelebtes Leben auf unsere Kinder zu projizieren und sie dafür zu belohnen, dass sie unsere Erwartungen erfüllen, sollten wir in einen besseren Kontakt mit uns selber kommen und berührbarer werden – das ist das Heilsamste, was es gibt.
 
Welches war das grösste Geschenk in Ihrem Leben?
Ich hatte das grosse Glück, dass meine Eltern kaum Zeit hatten, sich um mich zu kümmern. Und dass die Nachmittage schulfrei waren. Das eigentliche Leben fand nach Schulschluss statt. Ich zog jeden Mittag los als Entdecker, lernte viel über meine Umgebung und darüber, wie ich mich in Gemeinschaften zurechtfinden und Verantwortung übernehmen kann. Ich musste es niemandem recht machen – die Eltern hatten in der Nachkriegszeit-DDR andere Sorgen – und war trotzdem geborgen in einer altersgemischten Gemeinschaft mit meinem Grossvater als wichtigste Bezugsperson. So entwickelte ich das innere Gefühl, dass mir nichts passieren kann, dass ich den Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, gewachsen bin. Heute nennt man das Resilienz. Man muss keine Kurse besuchen, um die zu erwerben, es reicht, dass man früh die Gelegenheit bekommt, selber mit Problemen fertig zu werden.
 
War das die Grundlage für Ihre späteren Erfolge als Wissenschaftler und Buchautor?
Vielleicht ist mein grösster Erfolg, dass ich es nie darauf angelegt habe, erfolgreich zu sein. Eigentlich ist mir ja gar nichts richtig gelungen in meinem Leben. Ich habe nicht richtig Karriere gemacht, bin als Neurobiologe nicht Institutsleiter geworden in Göttingen, sondern ein etwas sonderbarer Hirnforscher, der sich in alle möglichen Lebensbereiche einmischt, der etwa die Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Aussage aufschreckt, ADHS sei womöglich keine Erkrankung und Ritalin eine sehr fragwürdige Behandlung.
 
Woher kommt diese streitbare Seite?
Wer es seinen Eltern nicht recht machen muss, entwickelt ein besseres Gefühl für das Eigene und kann es sich leisten, öfter anzuecken. Ich habe immer relativ früh gemerkt, wenn ich Gefahr lief, mich in etwas zu verrennen und mir selbst untreu zu werden. Der Preis für eine steilere wissenschaftliche Karriere wäre gewesen, möglichst viele Publikationen zu verfassen, die den Gutachtern gefallen hätten, und möglichst viele Drittmittel zu beschaffen. Mir waren Freiräume aber wichtiger als akademische Meriten. Und ich wollte nicht die Details genauer erforschen, sondern die Zusammenhänge verstehen. Wer nur im Labor zerlegt, misst und analysiert, verliert leicht den Blick für das Ganze. 
 
Ihre Bücher über Angst, ADHS, über Hochbegabung, Potenzialentfaltung und Demenz erreichen ein Millionenpublikum. Wie haben Sie es als Forscher geschafft, so viele Menschen anzusprechen?
Als Wissenschaftler hielt ich jahrelang nur Vorträge vor meinen Fachkollegen. Als ich mich entschied, ein populärwissenschaftliches Buch über die Angst zu schreiben, kam ich ein Jahr lang kaum vom Fleck, weil mir die passenden Worte fehlten. Es gelang mir erst, als ich anfing, die künftigen Leser dieses Buchs gedanklich um meinen Schreibtisch herum zu versammeln: einen Pfarrer, eine Ärztin, einen Bauern, eine Kindergärtnerin, einen kritischen Fachkollegen. Als ich mir vor Augen führte, für wen ich schreibe, wie ich als Mentor jüngere Menschen ermutigen kann, ging es plötzlich leicht. Wenn man jemandem ein Geschenk machen will, etwas für andere tut statt fürs eigene Prestige, verliert man die Angst vor negativer Bewertung.
 
Und offenbar ermüdet man nicht. Sie wollen mit 68 Jahren nichts von Ruhestand wissen, sondern halten Vorträge zu unterschiedlichsten Themen und schreiben mindestens ein neues Buch pro Jahr. Was treibt Sie an?
Ich habe nie davon geträumt, eines Tages nicht mehr zu arbeiten, und ich habe nie für Geld gearbeitet. Schon als junger Mensch habe ich mich in die Vielfalt des Lebendigen verliebt und deshalb Biologie studiert. Diese Liebe ist nicht schwächer geworden. Aber es fällt mir schwer, tatenlos zuzuschauen, wie wir als eine irregeleitete Spezies diese Vielfalt ruinieren. Ich bilde mir nicht ein, diese Entwicklung aufhalten zu können, aber ich bin es mir schuldig, die derzeitige kollektive Verirrung immer wieder anzusprechen und zu fragen, warum wir so wenig aus unserem Potenzial machen, uns instrumentalisieren lassen und uns gegenseitig zu Objekten degradieren; und warum wir uns mit Konsum darüber hinwegzutrösten versuchen, dass wir schon zu Lebzeiten halb tot sind und die natürlichen Ressourcen zugrunde richten, um unsere Einkünfte und Erträge ständig weiter zu erhöhen.

Wovon hängt es ab, ob jemand sein Potenzial entfalten kann?
Das hängt wesentlich davon ab, ob ein Kind sich früh als Mangelwesen empfindet oder ob es das Gefühl vermittelt bekommt, es sei richtig und bedeutsam – unabhängig davon, was es leistet. Das Drama besteht darin, dass die meisten Menschen in jungen Jahren zu Objekten von Absichten und Bewertungen gemacht werden. Dadurch werden zwei elementare Bedürfnisse verletzt: jenes nach bedingungsloser Verbundenheit und jenes nach autonomer Gestaltung des eigenen Lebens. Weil ein Kind diesen doppelten Schmerz auf Dauer nicht aushalten kann, entwickelt es Notwehrstrategien.
 
Wie sehen diese aus?
Wenn das Kind merkt, dass es bestimmte Talente nicht entfalten kann, ohne die Verbundenheit aufs Spiel zu setzen und mit Liebesentzug bestraft zu werden, konzentriert es sich darauf, jenes Verhalten zu perfektionieren, das Anerkennung verspricht. Es unterdrückt seinen Bewegungsdrang, seine Entdecker- und Gestaltungsfreude, oft auch sein Mitgefühl, lernt, auf einem Stuhl zu sitzen und Stoff auswendig zu lernen, ohne unbequeme Fragen zu stellen; und statt sich zu entwickeln, wickelt es sich ein, legt sich einen Panzer zu und unterdrückt seine Bedürfnisse. Wer das am besten hinbekommt, hat die besten Karrierechancen und steigt mit grosser Wahrscheinlichkeit in die Chefetage einer grösseren Organisation auf. Jene, die nicht um ihrer selbst willen geliebt worden sind, verstehen sich prächtig darauf, andere als Objekte zur Realisierung ihrer Ziele zu benutzen.
 
Und all die «New Work»-Projekte, die im Zeichen von mehr Selbstverantwortung und weniger Hierarchie stehen, ändern nichts daran?
Selbstverantwortung setzt persönliche Entwicklung voraus, und diese kann man nicht von oben herab anordnen. Zudem sitzen wie erwähnt jene, die sich am meisten verwickelt haben und Emotionen sowie Mitgefühl erfolgreich unterdrückt haben, in der Regel ganz oben. Sie haben sich im Kampf um Macht durchgesetzt und profitieren von der Kommandostruktur. Deshalb kommt es oft vor, dass das obere Management die New-Work-Projekte, die es angestossen hat, selber sabotiert. Viele reden gegenwärtig von der Notwendigkeit einer digitalen Transformation, haben aber Angst, dass diese ihre Machtposition untergräbt.
 
Sie haben in Hamburg auf einer Konferenz mit der Aussage provoziert, der Übergang von strikt hierarchisch geführten Unternehmen zu agileren Organisationen mit mehr Spielraum für jeden Einzelnen sei mit der «Auswilderung von Zootieren» zu vergleichen.
Es ist naiv anzunehmen, dass Menschen, die von jungen Jahren an das ausgeführt haben, was andere ihnen sagen, von einem Tag auf den anderen Verantwortung übernehmen und Dinge gestalten können. Ein Zootier hält seinen Käfig für die Welt, viele Berufstätige sind insgeheim froh, dass sie nichts zu entscheiden brauchen, und versuchen einfach möglichst reibungslos zu funktionieren. Die gute Nachricht ist: Wir haben ein plastisches Gehirn und können das, was wir uns in jungen Jahren abgewöhnt haben, wiederentdecken und stärken. Das gelingt am ehesten, wenn wir eine attraktive Alternative finden zum weit verbreiteten Modus, nach Macht und Geld zu streben, um unsere Bedürftigkeit zu kompensieren. Wir müssten wieder unsere eigene Sinnlichkeit entdecken, berührbar werden, um unser Verhalten ändern zu können. Kinder und Jugendliche sind darin besser als die meisten Erwachsenen, deshalb sind sie es, die wichtige Bewegungen wie die «Fridays for Future» initiiert haben und so zu Entwicklungshelfern geworden sind für die Erwachsenen.
 
Wird auch die Digitalisierung das Umdenken vorantreiben? Viele Jobs werden von Computern zuverlässiger und schneller verrichtet als von Menschen.
Ja, die Digitalisierungswelle hat den angenehmen Nebeneffekt, dass sie uns zwingen wird, zur Vernunft zu kommen. Alle austauschbaren Jobs, alle, die man durch Algorithmen abbilden kann, werden künftig von Automaten verrichtet werden. So sehr wir uns ins Zeug legen, der Automat kann das besser und länger und macht weniger Fehler. Aber Maschinen haben im Unterschied zu uns keine Bedürfnisse. Sie können deshalb auch keine Vorstellungen davon entwickeln, wie bestimmte Bedürfnisse umsetzbar sind, verfügen also über keine Kreativität. Deshalb fehlt ihnen auch die Motivation, ihre Ideen umzusetzen. Sie können selbst nichts wollen, nur etwas Vorgegebenes ausführen. Was uns von unseren digitalen Geräten unterscheidet, ist also nicht unser Wissen und Können, sondern just die Lebendigkeit, die wir uns so erfolgreich abtrainiert haben im Bemühen, wie Maschinen zu funktionieren.
 
Wie wird Zusammenarbeit künftig organisiert sein?
Die Zeit der Einzelkämpfer ist ebenso vorbei wie jene der grossen hierarchischen Gebilde, die wegen ihrer Bürokratie und der vielen Machtkämpfe zu unflexibel sind und zu grosse Reibungsverluste erzeugen. Die Zukunft gehört den individualisierten Gemeinschaften. Sie werden getragen von Menschen, die nicht arbeiten gehen, um Geld zu verdienen, die sich nicht zum Objekt von Erwartungen, Bewertungen und Massnahmen machen lassen, sondern die aktiv ihr Leben gestalten und sich mit anderen verbinden, um ihre Ambitionen besser verwirklichen zu können. So entsteht eine Verbundenheit, die nicht auf Macht und Abhängigkeit beruht, sondern auf der Verfolgung eines gemeinsamen Anliegens. Die nüchterne, sinnentleerte Lohnarbeit, die heute dominiert, ist ja nicht gottgegeben – sie hat sich erst vor rund 200 Jahren etabliert. Wir erleben gegenwärtig, wie sie ihr natürliches Ende findet. Lebendig bleiben und über sich hinauswachsen kann nur jemand, der sich mit anderen in einer Gemeinschaft verbunden fühlt und die Erfahrung machen kann, dass er dort gebraucht wird und zeigen kann, was er zu leisten imstande ist.


21. und 28. Dezember 2019