Anaïs Saegesser, Unternehmerin in der Weiterbildungsbranche

«Ich suchte einen Weg, mich in den Dienst der Menschheit zu stellen»
Mit 30 Jahren blickte Anaïs Sägesser auf eine eindrückliche  Karriere zurück: Wirtschaftsstudium mit Doktortitel an der HSG, eine  eigene Beratungsfirma und dann ein Kaderjob in einem Weltkonzern. Doch  es gab ein Problem: Sie hatte das Gefühl, in einem goldenen Käfig recht  unwichtige Dinge zu tun. Grund genug für die heute 37-Jährige, die  Weichen neu zu stellen und eine Schule zu gründen. 
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: zvg
Kontakt und weitere Informationen:
www.stride-learning.ch oder 
anais.saegesser@stride-learning.ch
Frau Sägesser, Sie haben an der Hochschule St. Gallen einen  Doktortitel erworben und später als Beraterin und Managerin Karriere  gemacht. Warum sind Sie ausgestiegen?
 ANAÏS SÄGESSER: Ich habe mich schon sehr früh von der Sinnfrage  leiten lassen. So nahm ich ein Wirtschaftsstudium an der HSG in Angriff,  weil ich dachte, es könne nicht schaden, die Instrumente der Mächtigen  zu beherrschen, wenn man etwas verändern will auf dieser Welt. Ich  konnte dann allerdings wenig mit den Denkansätzen anfangen, die uns  damals vermittelt wurden. So schloss ich das Studium in der Minimalzeit  von vier Jahren ab und hängte zwei Jahre Religions- und  Islamwissenschaften an. Gleichzeitig nahm ich die Dissertation in  Angriff, in der ich der Frage nachging, wie sich Kultur auf die  Übernahme von Informationstechnologie in der Arabischen Welt auswirkt.  Das Thema war damals sehr aktuell und für mich hoch interessant, weil es  ein Brennpunkt meiner Studienschwerpunkte Ökonomie,  Informationstechnologie und Islamwissenschaften war. Während der  Dissertation stieg ich auch als Unternehmensberaterin in die Berufswelt  ein.
 Warum machten Sie danach Karriere, ohne es darauf angelegt zu haben?
 Als Angestellte in der Unternehmensberatung konnte ich zwar  analytisch arbeiten, aber inhaltlich fand ich das wenig befriedigend. So  machte ich mich nach Abschluss der Dissertation mit meiner  Beratungsfirma selbständig. Ein halbes Jahr später erhielt ich ein  Stellenangebot von meiner Kundin SwissRe direkt auf Stufe Vice  President, mit noch nicht einmal 30 Jahren. Die konzeptionelle Arbeit  dort fiel mir leicht und es machte mir Spass, mit so vielen  hochintelligenten Menschen zusammenzuarbeiten. Der weitere Weg war  vorgezeichnet, inklusive Nachwuchstalente-Programm, Führungsaufgaben,  stetigem Lohnzuwachs. Nach knapp zwei Jahren hatte ich aber genug. Mir  kam es vor, als würden wir uns alle in einem goldenen Käfig bewegen.  Immer öfter hatte ich das Gefühl, meine Zeit nicht tatsächlich sinnvoll  einzusetzen und nichts zu tun, was von direkter gesellschaftlicher  Relevanz wäre. Ich sagte mir: Wenn du schon das Privileg hast, in einem  so wunderbaren Umfeld geboren und ausgebildet worden zu sein, dann  solltest du alles daran setzen, davon etwas zurückzugeben.
 Das war in der Unternehmensberatung oder im Rückversicherungsgeschäft nicht möglich?
 Für mich persönlich nicht. Dort wo ich mich bewegte, ging es  ausschliesslich darum, die Performance eines bestimmten  Unternehmensbereiches zu verbessern. Ob damit auch die Lebensqualität  vieler Menschen verbessert wurde, war nie Thema. Meine berufliche  Erfahrung stand somit losgelöst von den dringlichen Problemen wie  beispielsweise dem Klimawandel. Deshalb kündigte ich nach zwei Jahren  bei Swiss Re. Ich suchte einen Weg, mich in den Dienst der Menschheit zu  stellen.
 Sie hatten keinen Plan?
 Nein. Ich gab mir einfach zwei Jahre Zeit und thematisch die Vorgabe  «Klimawandel». Als Erstes reduzierte ich meine Lebenskosten drastisch.  Ich kündigte die Wohnung, wohnte abwechselnd bei Freunden und Familie,  hörte auf mit Kleidershopping und stellte meine Ernährung auf  vegetarisch um. Das half mir zwar nicht bei der Stellensuche, aber  reduzierte meine Abhängigkeit und war Teil eines Selbstexperimentes: Was  brauche ich wirklich? Nach den ersten Stellenabsagen begann ich, mich  intensiv in die Klima-Thematik einzuarbeiten, engagierte mich in  Freiwilligen-Programmen, belegte Vorlesungen in Umweltwissenschaften. Es  dauerte fast ein Jahr, bis ich die erste bezahlte Stelle fand. Es ist  eine gute Erfahrung, in einen neuen Bereich einzutauchen und zu spüren,  dass da niemand auf dich gewartet hat. Zwischendurch machte sich auch  Angst bemerkbar, aber wenn man die Angst begrüsst und lernt, sich nicht  von ihr lähmen zu lassen, ist das eine wertvolle Erfahrung.
 Sie stiegen dann als Business Coach beim Schweizer Ableger  des internationalen Netzwerks Climate-KIC ein, das Innovationen und  Unternehmertum zur Verlangsamung des Klimawandels fördert. Fünf Jahre  später – zwei Jahre, nachdem Sie die Leitung des Schweizer Programms  übernommen hatten – zogen Sie weiter. Warum halten Sie es nirgends  länger aus?
 Wir konnten da einiges bewegen und Climate-KIC ist eine tolle  Initiative mit vielen grossartigen Menschen und Resultaten. Mich  beschäftigte aber weiterhin die Frage, wo ich persönlich am meisten  bewegen kann. Ich kam zum Schluss, dass mehr technologische Innovation  keine befriedigende Antwort auf die grossen Herausforderungen ist. Es  ist ein Trugschluss zu glauben, die Technologie löse alle Probleme. In  der Schweiz haben wir beispielsweise im Bereich der Gebäudetechnologie  riesige Fortschritte gemacht, was den Energieverbrauch pro Quadratmeter  massiv gesenkt hat. Aber was bringt das, wenn wir immer mehr  Quadratmeter Wohnfläche für uns beanspruchen? Oder was bringen  effizientere Motoren, wenn unsere Autos immer schwerer werden? Und wie  relevant ist das alles, wenn viele Menschen Wochenendtrips nach  Lissabon, Prag oder London unternehmen? Die Grundfrage ist nicht, was  wir technisch verbessern können, sondern wohin wir als Gesellschaft  wollen, was unsere Werte, Ziele und Glaubenssysteme sind, nach denen wir  uns ausrichten.
 Offenbar wollen wir konsumieren und unseren Wohlstand maximieren.
 Dafür gibt es eine Nachfrage, die reichlich bedient wird, das stimmt.  Mein Menschenbild ist aber ein anderes. Ich bin überzeugt, dass jeder  tief in seinem Innern weiss, was gut ist und uns gut täte. Nur sind  viele Menschen nicht in Verbindung mit sich selber; sie verausgaben sich  bei der Arbeit und lenken sich mit Konsum von den wesentlichen Fragen  ab. Oder sie kapitulieren früh, weil sie das Gefühl haben, es spiele  keine Rolle, wie sie sich verhalten, sie könnten ohnehin nichts bewegen.  Ich glaube, dass jeder Mensch wichtig ist und etwas verändern kann,  wenn er ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, gute Netzwerke bildet  und sich die Instrumente aneignet, um unternehmerisch etwas bewegen zu  können.
 Was heisst das konkret? 
 Ich bin überzeugt, dass es andere Ausbildungsformen braucht. An  vielen etablierten Schulen wird nach wie vor in erster Linie Wissen  vermittelt. Expertenwissen ist heute für alle zugänglich in teilweise  sehr gut aufbereiteter Form. Schulen sollten deshalb das vermitteln, was  wir nicht googeln können – jedenfalls im Weiterbildungsbereich.
 Und deshalb haben Sie kürzlich eine eigene Schule gegründet?
 Nicht eine Schule sondern eine unSchool namens Stride,, die erste  unSchool for Entrepreneurial Leadership. Wir starten im Oktober mit  einem berufsbegleitenden Einjahresprogramm, das ebenso auf die  persönliche Weiterentwicklung der Absolventen abzielt wie auf die  Befähigung zum wirkungsorientierten Unternehmertum. Mindestens so  wichtig wie das Lernen wird das Umsetzen sein. So sollen die Absolventen  nach etwa einem halben Jahr gemeinsam Unternehmen gründen und am Markt  erproben, was ihre Ideen taugen.
 Warum nennen Sie das Ganze eine unSchool?
 Weil die Lernenden selbst ihr eigenes Lernen vorantreiben und über  weite Strecken definieren, was für sie wichtig ist. Wir von Stride  begleiten sie dabei durch einen klaren Prozess. Wichtig ist uns zudem,  dass auch die scheinbar unverrückbaren Dinge hinterfragt werden. Gesetze  beispielsweise sind ja nicht in Stein gemeisselt, sondern sie  repräsentieren die früheren Wertevorstellungen einer Gesellschaft. Wer  neue Wege gehen will, tut gut daran, mit kindlicher Neugierde noch  einmal alles in Frage zu stellen, sich nicht damit abzufinden, dass die  Dinge nun einmal sind, wie sie sind. Mit meinen Mitgründern Niels Rot  und Björn Müller will ich die Lernenden auf ihrem Weg begleiten und ihre  persönliche Transformation unterstützen.
 Wen wollen Sie mit dem Lehrgang ansprechen?
 Erfahrene, erfolgreiche Berufsleute zwischen 30 und 45, die sich  vermehrt die Frage stellen, ob das jetzt alles war oder wie sie ihrem  Leben mehr Sinn und Tiefgang geben könnten. Aber auch Menschen im  letzten Drittel ihrer Berufslaufbahn, die nochmals was Neues anpeilen  möchten oder müssen und keine Lust haben, die restlichen Berufsjahre als  Berater zu arbeiten. Es ist so schade, wenn man aus Angst oder  Ratlosigkeit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Ich selber bin heute  viel glücklicher als auf dem Einkommenszenit vor sechs Jahren. Ich bin  nicht mehr nur intellektuell leistungsfähig, sondern bin durch  Praktizieren von Yoga, bewusstes Atmen und unternehmerische Erfahrung in  Verbindung mit mir und meiner Umwelt gekommen. Und ich habe ein gutes  Gefühl dafür gewonnen, was wirklich wichtig ist: nicht Kontostand oder  Status, sondern dass ich durch meinen selbst gewählten Weg etwas  Sinnvolles tun kann.
25. Juni 2016










