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«Meine To-do-Liste wurde in der Firma zum Running Gag»

Keine Chefs, keine Budgets, keine Zielvorgaben, kaum Kontrolle: Die Firma Liip verstösst gegen viele Regeln der Unternehmensführung und ist damit sehr erfolgreich. Mitgründer und Mitinhaber Christian Stocker erläutert, wie er sich als Chef überflüssig gemacht hat, wie sich 140 Mitarbeiter selber organisieren und was passiert, wenn man auf Vorschriften verzichtet.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.liip.ch oder christian.stocker@liip.ch


Herr Stocker, die Internet-Agentur Liip, die Sie mitgegründet haben, ist fast bekannter für ihre Organisationsform als für die Websites, die sie entwickelt. Ist das ein gutes Zeichen?
CHRISTIAN STOCKER: Das Interesse an unserer Organisationsform zeigt, wie viel sich in der Arbeitswelt gerade verändert und wie wichtig es ist, dass sich Unternehmen zeitgemässe Strukturen geben. Firmen, die stark hierarchisch und nach Abteilungslogik funktionieren, sind vielen Kundenbedürfnissen nicht mehr gewachsen. Die Prozesse sollten strikt am Markt und den Kundenwünschen ausgerichtet werden. Mein Hauptinteresse war zu Beginn das Medium Internet. Als Unternehmer habe ich dann früh darüber nachzudenken begonnen, wie Menschen am besten zusammenarbeiten und wie viel Führung ein Team braucht. Dieses Thema interessiert mich inzwischen mindestens so stark wie die Technologie. Klar, mit den Websites verdienen wir unser Geld. Aber das können andere auch. Unverwechselbar macht uns unsere Form der Zusammenarbeit.

Was unterscheidet Liip von klassisch organisierten Unternehmen?
Knapp zusammengefasst: Es gibt bei uns keine Chefs, keine Abteilungen, keine Budgets, keine Vorschriften, keine Kontrollen, fast keine internen Mails, keine unbezahlten Überstunden, 50 Prozent Teilzeitarbeitende und vier Wochen Vaterschaftsurlaub.

Sie sind einer von vier Gründern, die zusammen 80 Prozent des Unternehmens besitzen. Warum verzichten Sie freiwillig auf die Cheffunktion?
Wir haben uns bereits vor sieben Jahren von fixen Rollen wie Projektmanager, Entwickler, Verkäufer etc. verabschiedet. Die Softwarebranche hat dank Methoden wie Scrum früh begonnen, sich agil um einzelne Projekte herum zu organisieren. Es gibt keinen Manager, der sagt, wo es langgeht, sondern ein Team arbeitet flexibel zusammen und passt sich den Kundenbedürfnissen an. Wir vier Gründer versuchten, das Ganze zu managen, so gut es ging. Vor fünf Jahren haben wir die Geschäftsleitung auf sechs Personen erweitert, aber auch so war es kaum mehr möglich, alles zu überblicken und wichtige Entscheidungen zu fällen. Vor vier Jahren wagten wir den nächsten Schritt und bildeten diverse Teams à 5 bis 15 Mitarbeiter. Wir sagten ihnen: Ihr könnt machen was ihr wollt! Es gibt nur drei Auflagen: Die Finanzen müssen stimmen. Der Kunde muss zufrieden sein. Die Mitarbeiter müssen glücklich sein.

Wurden die Chefs dadurch überflüssig?
Nicht ganz. Wir wurden bei Grundsatzfragen und Konflikten beigezogen und bestimmten die Löhne. Vor einem Jahr fragten wir uns aber tatsächlich, für was es uns noch braucht in der eigenen Firma. Das war ein schöner Moment. Ich hatte endlich wieder Zeit, in Teams mitzuarbeiten, in Projekten Entwicklungsarbeit zu übernehmen. Niemand macht sich selbständig, um Chef zu werden – aber viele Unternehmensgründer werden mit der Zeit ganz von Führungsaufgaben absorbiert. Ich war glücklich, wieder das tun zu dürfen, was ich liebe. Zuvor waren wir Manager oft der Flaschenhals. Alles landete auf unseren Pulten, alles hätten wir entscheiden sollen. So versandeten viele gute Initiativen, weil wir nicht alles bewältigen konnten. Dass ein Thema auf meine To-Do-Liste kommt, war in der Firma so etwas wie ein Running Gag. Alle wussten: im Papierkorb wäre das Thema ähnlich gut aufgehoben.

Ist das Problem gelöst, wenn man kurzerhand das Management abschafft?
Das war unser Ansatz, ja. Vertrauen schenken, Entscheidungskompetenzen abtreten. Langjährige Mitarbeiter übernahmen gerne mehr Verantwortung und waren happy, endlich tun und lassen zu können, was sie für richtig hielten. Schwierig wurde es, weil wir im vergangenen Jahr um 30 Prozent gewachsen sind. Der Drittel, der neu zu uns kam, tat sich schwer mit der Offenheit. Wenn keiner dir sagt, wer für was zuständig ist, was man darf und was man besser unterlässt, führt das leicht zur Überforderung. Deshalb haben wir uns Ende letzten Jahres dazu entschieden, ein weiteres Experiment zu wagen und Holacracy einzuführen. Dieses System schafft günstige Strukturen für Entscheidungsprozesse, indem es die Autorität, die sonst bei Führungspersonen oder Managern liegt, auf verschiedene Rollen verteilt. Alles leitet sich vom Unternehmenssinn, englisch: purpose, ab. Dieser dient als Richtschnur für alle Entscheidungen.

Welche Erfahrungen haben Sie in der Praxis mit Holacracy gemacht?
Wir sind noch in der Experimentierphase. Die Jahre zuvor hatten wir ein Minimum an Strukturen, nun ist einiges wieder stark formalisiert. Es gibt zwar keine fixen Funktionen oder Abteilungen, aber klar zugeteilte Rollen und verbindliche Abläufe, was bei Problem zu tun ist. In regelmässigen Governance-Meetings werden Engpässe benannt und Verantwortungsbereiche zugeteilt. Das kostet Zeit, gibt aber einen guten Rahmen. Unverändert gültig ist, dass Dinge erst dann geregelt werden, wenn es ohne Regeln zu Problemen führt. Früher suchten wir dann immer den Konsens des ganzen Teams – was viel Zeit in Anspruch nahm und inhaltlich manchmal zu unguten Kompromissen führte. Heute kann jeder Verbesserungsvorschläge machen. Sofern niemand beweisen kann, dass das für die Firma schädlich ist, wird der Vorschlag umgesetzt.

Müssten Sie nicht konsequenterweise auch die Festlegung der Löhne den Teams überlassen?
Das könnte ein nächster Schritt sein, kombiniert mit Lohntransparenz. Schon heute zahlen wir für vergleichbare Leistung gleiche Löhne. Wir wollen nicht jene belohnen, die besser verhandeln. Wichtig ist uns auch, dass wir entweder für alle einen Bonus zahlen – in Form eines 14. Monatslohns – oder für niemanden. Man kann nicht Einzelne oder Teams besonders vergüten und gleichzeitig erwarten, dass sich alle gegenseitig unterstützen. Offen ist im Moment auch, was mit den Anteilen der AG passiert. Solange wir vier Gründer mit 80 Prozent der Anteile praktisch das volle Risiko tragen, haben wir in wichtigen Fragen noch das letzte Wort. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass wir mittelfristig die Mitarbeiter viel stärker an der Firma beteiligen. Abgesehen von der Lohnfrage entscheiden die Teams schon heute eigenständig über Anstellungen.

Wie behalten Sie den Überblick über Ausgaben und Erträge, wenn sie keine Budgets erstellen und kein Controlling haben?
Jedes Team hat eine Art Anzeigetafel, auf der die Ausgaben und Einnahmen visualisiert sind. Ein einfaches Ampelsystem zeigt, ob und wie stark die Teams im Plus sind. So sieht jedes Team ganz leicht, wann es kritisch wird und wann es genügend Luft gibt, um sich auch mal mit weniger rentablen Dingen zu beschäftigen. Wir verzichten auf Zielvorgaben und Wachstumsziele. Das letzte Ziel in dieser Hinsicht war ein Antiwachstumsziel: wir wollten nie mehr als 50 Angestellte haben – da sind wir mit heute 140 Mitarbeitern kolossal gescheitert. Durch die Aufteilung in kleine, autonome Teams konnten wir zum Glück vermeiden, dass die Grösse zum Handicap wurde. Das Schöne ist: Es gibt keine externen Shareholder, die von uns permanentes Wachstum erwarten. Das gibt uns die Freiheit, auch Aufträge abzulehnen, etwa von Kunden aus der Waffen-, Tabak- oder Autoindustrie oder Kleinkredit-Anbieter.

Sie haben kein Spesenreglement und keine Genehmigungsinstanz für solche Ausgaben. Wir das nicht missbraucht?
Meine Überzeugung ist: Wenn Sie die Regeln abschaffen, schafft das nicht Probleme, sondern Freiräume für unternehmerisches Handeln. 80 Prozent unserer Kosten sind Lohnkosten, 10 Prozent Fixkosten wie die Miete, 10 Prozent variable Kosten. Schon deshalb kauft sich keiner bei uns morgen einen Tesla. Manche machen etwas mehr Spesen als andere, aber diese Streuung rechtfertigt noch lange kein umständliches Regel- und Kontrollsystem. Der nächste Schritt wird sein, die Ausgaben transparent zu machen und so die Selbstregulierung zu stärken. Und sollte sich einer wirklich jedes Jahr einen neuen Computer anschaffen, können wir immer noch mit ihm das Gespräch suchen und wenn nötig eine Regel einführen.

Warum gilt bei Ihnen der Grundsatz, dass es keine unbezahlten Überstunden gibt?
In unserer Branche ist es fast schwieriger, qualifizierte Mitarbeiter zu finden als gute Kunden. Also müssen wir uns stark darum bemühen, dass sich die Mitarbeiter hier wohl fühlen. Dazu gehört, dass niemand sich selbst ausbeuten und sein Privatleben vernachlässigen soll. Wer bei uns arbeitet, kann um 17 Uhr sein Kind von der Krippe abholen oder den Freitag frei nehmen für Elternzeit, wie ich das schon länger tue. Niemand ist am Arbeitsplatz leistungsfähig, wenn sein Privatleben aus der Balance gerät.

Auf Ihrer Kundenliste stehen grosse Unternehmen wie Migros, Swisscom, Mobiliar, Raiffeisen oder die Bundesverwaltung. Sind diese Kunden nur an Ihren Weblösungen interessiert oder auch an modernen Organisationsformen?
Die meisten stehen unter grossem Veränderungsdruck. Gerade im mittleren Management leiden die Angestellten. Es gibt unzählige Meetings, niemand redet Klartext, alle fürchten sich vor Fehlern, keiner will die Verantwortung übernehmen. Viele traditionelle Organisationen werden sich bewusst, dass sie zu träge sind und sich zu stark mit sich selber beschäftigen statt mit dem Markt. Und dass sie die besten Mitarbeiter verlieren, weil diese das Gefühl haben, nichts bewegen zu können. So gesehen spüren wir ein wachsendes Interesse bei den Kunden. Aber das Umdenken braucht Zeit, grosse Organisationen sind träge und die Manager an der Spitze sind oft eher konservativ.

Was treibt Sie an bei Ihrer Arbeit?
Geld zu verdienen ist nicht der Antrieb, sondern die Grundlage für alles Andere. Mich motivieren hauptsächlich zwei Dinge: Erstens die Freude am Handwerk – eine gut funktionierende Website zu machen, ist ähnlich konkret und befriedigend wie wenn ein Schreiner einen schönen Tisch herstellt. Der zweite Punkt: Wir haben 140 gute Arbeitsplätze geschaffen und können im eigenen Unternehmen ausprobieren und vorleben, wie sich Menschen weiterentwickeln und gegenseitig unterstützen. Die schönste Erkenntnis für mich ist, dass sich niemand zwischen Karriere und Selbstverwirklichung entscheiden muss. Hier muss sich keiner verbiegen, keiner etwas tun, was ihm ein Chef vorgegeben hat. Deshalb schleppt sich auch keiner aus reinem Pflichtgefühl zur Arbeit. Und obwohl wir gegen viele Regeln verstossen, die in der Wirtschaft als unverzichtbar gelten, sind wir auch wirtschaftlich sehr erfolgreich.


21. Mai 2016