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«Es war eine einzige Tortur – und die beste Zeit meines Lebens»

Mit zwanzig fühlte sich Christoph Rehage nicht bereit für den Ernst des Lebens. Er jobbte ein Jahr lang in Paris, kehrte zu Fuss nach Deutschland zurück, studierte zwei Jahre Sinologie in München und setzte sein Studium in Peking fort. Dort fasste er den Entschluss, den Heimweg wieder zu Fuss anzutreten. An seinem 26. Geburtstag brach er auf zu einer Expedition mit ungewissem Ausgang. Als er nach 4646 Kilometern Fussmarsch scheinbar alles verloren hatte, entdeckte er etwas, wonach er in China vergeblich gesucht hatte: ein Gefühl von Freiheit.

Interview: Mathias Morgenthaler    Fotos: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.thelongestway.com


Vortragstournee von Christoph Rehage in der Schweiz

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3 Generationen, 1 Abenteuer: Die fünfköpfige Crew in St. John, US Virgin Island.

Christoph Rehages Video, das über 12 Millionen Mal angeklickt wurde.

Herr Rehage, wie wurden Sie vom braven Studenten zum Abenteurer?
CHRISTOPH REHAGE: Ich wollte eigentlich gar nicht studieren, das war eine reine Vernunftentscheidung – und nur teilweise meine eigene. Wenn du zwanzig bist, sind ja alle möglichen Leute vernünftig an deiner Stelle. Alle sagen dir, es müsse etwas Rechtes aus dir werden. Mir ging das bald auf die Nerven. So packte ich nach dem Zivildienst meinen Rucksack und fuhr erst einmal mit dem Bus nach Paris. Dort jobbte ich zuerst im McDonald’s und später im Louvre und genoss ansonsten diese aufregende Stadt. Nach einem Jahr fand mein Vater, es sei jetzt an der Zeit, dass der Sohn nach Hause zurückkehre und sich dem Ernst des Lebens stelle.

Und Sie fügten sich, wählten aber die langsamste Fortbewegungsart.
Genau. Ich wollte weder weg von Paris noch an eine Universität, also sagte ich mir: Wenn ich zu Fuss losmarschiere, komme ich nicht zu bald in meiner Heimat an. Ich war nie ein grosser Wanderer gewesen, war vermutlich bis zu dem Zeitpunkt nie länger als zwei Stunden am Stück marschiert; aber die Vorstellung, einen Ort, den man ins Herz geschlossen hat, langsam am Horizont verschwinden zu sehen, gefiel mir. So sollte eine banale Rückreise zu einem Abenteuer, einer Entdeckungstour werden. Insgeheim sah ich mich ein wenig auf den Spuren der Legionäre, die Europa zu Fuss durchschritten hatten.

Wurde es zu einem Triumphzug?
Es war eine einzige Tortur. 800 Kilometer in 23 Tagen, und das im Hitzesommer 2003. Ich hatte weder Geld für ein Hotel noch für ein Restaurant, noch nicht einmal für ein Zelt, also übernachtete ich im Schlafsack auf Feldern oder unter Balkonen bei Regen. Und doch gab es immer wieder goldene Momente, ein malerischer Sonnenaufgang nach einer unruhigen Nacht zum Beispiel oder dass ich mich ohne Plan intuitiv für den richtigen Weg entschied. So kam ich zwar sehr ausgezehrt und schmutzig, aber seltsamerweise auch happy zuhause in Bad Nenndorf an. Die Erinnerung verklärt die Dinge schnell, ich hielt meinen qualvollen Fussmarsch für die beste Zeit meines Lebens.

Und dann gings doch an die Uni.
Ja, ich schrieb mich aus Ratlosigkeit in München für Politik und Geschichte ein mit dem vagen Ziel, später vielleicht Journalist zu werden. Ich brauchte noch ein zweites Nebenfach und schrieb mich aus pragmatischen Überlegungen für Chinawissenschaften ein. So hielt ich zwei Jahre lang durch, aber ich hasste mein Leben von ganzem Herzen. Das hatte nicht nur mit dem Studium zu tun, sondern auch mit München. Die wahre Trennlinie in Deutschland verläuft ja nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd – die Semmel-Brötchen-Grenze sozusagen. Ich fand diese beschaulich-konservative Welt in München grauenhaft, aber am meisten ärgerte ich mich wohl über mich selber, dass ich Paris gegen dieses München getauscht hatte.

Deshalb suchten Sie nach zwei Jahren wieder das Weite?
Mein Plan war immer: Schreib eine gute Zwischenprüfung und studiere dann in China weiter. Ehrlich gesagt hatte ich zu dem Zeitpunkt keine grosse Ahnung von China. Während die Studienkollegen über traditionelle chinesische Medizin, Tee-Zeremonien oder Kung Fu debattierten, beschränkte sich mein Grundwissen auf Reis, Bruce Lee, Mao und die Mauer. Als ich dann die Zusage fürs Austauschjahr in Peking inklusive Stipendium hatte und der Abflugtermin näher rückte, wurde mir sehr mulmig zumute. Ich bin – auch wenn mir das heute niemand mehr glauben will – im Grunde ein recht ängstlicher Mensch. Ich wage verrückte Dinge trotz meiner Angst, nicht weil ich angstfrei wäre. Und ich hatte sehr viele Ängste mit im Gepäck, als ich nach Peking flog.

Welches waren die ersten Eindrücke in dieser Metropole?
Ich war überwältigt und eingeschüchtert von der Grösse der Stadt. Und ich tat mich sehr schwer, mich im Alltag zurechtzufinden. Nach zwei Jahren Sinologie an der Universität München konnte ich Konfuzius-Texte entziffern, aber weder nach dem nächsten Supermarkt noch nach einer Toilette fragen. Und im städtischen Busverkehr war ich verloren. Jedes Mal, wenn ich zu einer Expedition in Richtung Supermarkt aufbrach, hatte ich eine Art Überlebensrucksack mit Wasser und Immodium dabei. So lernte ich im ersten Jahr primär Chinesisch und im zweiten an einer Filmhochschule das Handwerk der Kameraführung. Oft schwänzte ich allerdings den Unterricht, unternahm Entdeckungsreisen ins Hinterland und sehnte mich nach den Glücksgefühlen des Paris-Marsches. Und eines Tages war da diese Stimme, die sagte: Du könntest ja auch von hier aus zu Fuss nach Hause marschieren.

Kein sehr realistisches Unterfangen.
Das fand meine Familie auch, als ich erstmals darüber sprach. Und meine Freunde meinten: Jetzt versucht er sich wieder wichtig zu machen. Mir war die Sache eher peinlich, ich kam mir vor wie ein kleines Mädchen, das allen Ernstes sagt, es wolle Prinzessin werden. Aber ich hatte einen Atlas konsultiert und gesehen: Das ist grundsätzlich machbar auf dem Landweg, zuerst lange durch China, dann durch Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Armenien, die Türkei … und der Rest würde sich dann schon finden lassen. Mit jedem Tag nahm ich meine verrückte Idee ernster, studierte die klimatischen Bedingungen in den verschiedenen Ländern und schrieb die deutschen Konsulate an. Zu meiner Überraschung antworteten all diese diplomatischen Vertreter und keiner hat mir dezidiert abgeraten. Der Konsul in Kasachstan riet mir einzig, ich solle mir das Land am besten nicht zu klein vorstellen.

Sie haben sich diesmal also seriös vorbereitet?
Ja, ich hatte einige Bücher gelesen und mich bei TV-Journalisten und Abenteurern über vieles erkundigt. Und ich sah das Ganze diesmal nicht einfach als Spass, sondern als seriöses Projekt. Ich nahm mir vor, täglich zu bloggen, Begegnungen mit der Kamera festzuhalten. Entsprechend akribisch recherchierte ich im Voraus. Bis ich von Philippe Valéry, der zu Fuss von Marseille nach Kashgar im äussersten Westen Chinas gereist war, den entscheidenden Rat erhielt: Wie es nicht den perfekten Moment für ein Kind oder einen Berufswechsel gebe, schrieb mir der Franzose, sei man nie gut genug vorbereitet für eine solche Reise – nach zwei Tagen so wenig wie nach zwei Jahren. Man zerbreche sich zwangsläufig über die falschen Fragen den Kopf. Entscheidend sei deshalb, den ersten Schritt zu machen und loszulaufen. Das überzeugte mich und so machte ich mich am Tag meines 26. Geburtstags auf den Weg.

Wie ist es Ihnen ergangen in den ersten Tagen?
Für den Körper war es brutal, ein einziges Abschaben und Reiben. Es war keine gute Idee gewesen, 30 Kilo Material in den Rucksack zu packen. Trotz der Schmerzen verspürte ich aber rasch eine grosse Euphorie. Es war für mich sehr befreiend, kein Zuhause mehr zu haben und zu wissen: Meine Welt ist, was in diesen Rucksack passt. Es gab eine klare Ordnung, alles war wohltuend einfach und überschaubar – nicht nur die Ordnung im Rucksack, sondern auch mein Job. Er bestand darin, mit diesem Schneckenhaus am Rücken jeden Tag ein Stück voranzukommen. Die anfängliche Angst war schnell weg und ich freute mich, wenn ich am Abend wieder 26 Kilometer geschafft hatte.

Gab es keine Momente der Angst?
Am Anfang war ich sehr misstrauisch, weil ich fürchtete, man würde mich ausrauben. Wenn ich für 2 Euro in einer Truckerherberge übernachtete, nahm ich stets alle Wertsachen mit auf die Toilette oder in die Duschräume. Als ich später einen ersten Freund traf, blieb ich unnötig lange auf Distanz, weil mir sein freundliches Verhalten verdächtig vorkam. Dann wurde mir aber klar, dass ich in diesem Kontrollmodus nicht weit kommen würde. Ich überwand mich, mehr auf mein Bauchgefühl zu vertrauen, und durfte erfahren, dass die Intuition Dinge versteht, von denen der Verstand keine Ahnung hat.

Welches waren die gefährlichsten Momente Ihrer Reise?
Die grösste Gefahr ging stets vom Verkehr aus. Wenn ich durch enge Tunnels marschieren musste, fühlte ich mich ohnmächtig. Ein paar Mal verlief ich mich mit wenig Proviant in den Bergen, einmal sagten mir Einheimische am Morgen nach einer Zeltübernachtung, in diesem Gebiet seien viele Schneeleoparden angesiedelt. Insgesamt ist China aber ein sehr sicheres Reiseland, wenn man seinen siebten Sinn ein wenig geschult hat. Zudem erlebte ich sehr viel Unterstützung. Wenn du zu Fuss unterwegs bist, sehen die Leute leicht deine Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Sie lassen sich berühren von deiner mühevollen Fortbewegungsart und tun alles, um deine elementaren Bedürfnisse wie Trinken, Essen und Schlafen zu stillen. Man wird sehr anspruchslos und auch das hat etwas Reinigendes. Wenn du 25 Kilometer gewandert bist, erscheinen dir ein Hocker und eine Tasse Tee als kleines Paradies.

Sie sprachen am Anfang von der Gefahr, solche Abenteuer nachträglich zu verklären. Hand aufs Herz, haben Sie Ihr Vorhaben nicht auch oft verflucht?
Aber sicher, immer wieder. Ich habe viele Momente unglaublicher Langeweile erlebt auf nicht enden wollenden Strassen. Und immer wieder meldeten sich Selbstzweifel, Zorn, Wut und Traurigkeit. Dann fragte ich mich, warum ich ein bis zwei Jahre meines Lebens wegwerfe für ein durch und durch sinnloses Unterfangen. Und dann, ohne dass ich Antworten auf solche Fragen gefunden hätte, kippte die Stimmung wieder in eine berauschende Euphorie. Ich erlebte jede einzelne Emotion viel intensiver als im europäischen Alltag, weil ich so viel Zeit hatte und so wenig Ablenkung.

Sie wollten von Peking bis in Ihr Heimatdorf in Norddeutschland wandern. Warum haben Sie das Unterfangen nach einem Jahr und 4646 Kilometern abgebrochen?
Ich hatte mich in Peking in ein chinesisches Mädchen verliebt. Sie hatte sich für ein Studium in München eingeschrieben, an jener Uni, von der ich nach Peking geflohen war. Als Juli, meine Freundin, nach München flog, sagte ich zu ihr: «Warte dort auf mich, ich komme dir nach, aber das wird dauern.» Für mich war dieses Gefühl elementar wichtig, dass in Deutschland jemand auf mich wartete, dem ich all meine Geschichten erzählen konnte. Wir waren während meines Fussmarschs immer wieder in Kontakt, so gut es das Funknetz eben erlaubte. Dann erreichte mich eines Tages ihre Nachricht, sie warte jetzt nicht mehr länger auf mich, es sei vorbei. Dadurch verlor mein ganzes Unterfangen auf einen Schlag seinen Sinn.

Der Sinn Ihrer Reise bestand darin, dass in Deutschland eine Frau auf Sie wartete?
Sagen wir es so: Durch die Nachricht meiner Freundin wurde mir klar, dass ich kein Gefühl für diese Reise hatte. Zuvor war alles auf Prinzipien aufgebaut, die ich eisern verfolgte: Täglich marschieren, keine Verkehrsmittel benutzen, den Bart wachsen lassen, bloggen, jeden Tag die Füsse waschen und Socken wechseln. Dann fiel dieses disziplinierende Regelwerk wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Mir wurde klar, dass ich keine Ahnung hatte, was ich eigentlich wollte, und dass die Fortsetzung der Reise zu einer komplett inhaltslosen Durchhalteübung verkäme. Ich marschierte weiter in die nächste Stadt, Ürümqi, liess mir dort den Bart abschneiden und die Kleider in Ordnung bringen, und flog zurück nach München. Ich wollte Juli sehen und für meinen Fall plädieren.

Hatten Sie Erfolg?
Sie hörte sich das an und sagte mir dann, das ändere nichts an ihrer Entscheidung, wir würden uns nie mehr sehen. Danach fühlte ich mich verlorener als im Zelt in der Wüste Gobi. In München konnte ich nicht bleiben, in mein Heimatdorf wollte ich nicht zurückkehren nach dieser Schmach. Also entschied ich mich, für eine Weile bei der Familie eines Grossonkels in der Eifel zu leben. Und dort fühlte ich mich, obwohl doppelt gescheitert, plötzlich seltsam befreit. Ich hatte stets immense Angst vor dem Scheitern gehabt und mir auch deshalb rigide Prinzipien auferlegt für meinen Marsch von Peking nach Hause. Mein Vorhaben hatte mich zum Abenteurer gemacht, aber mein Verhalten war das eines Buchhalters gewesen. Ich war zwar draussen in der Wildnis gewesen, aber gleichzeitig gefangen in meinem Korsett, komplett unfrei.

Und was haben Sie mit dieser Freiheit angefangen?
Ich produzierte ein Video von meiner Reise. Als ich es online publizierte, löste das ein immenses Echo aus. Ich erhielt endlos viele Zuschriften, wurde in TV-Sendungen eingeladen, erhielt von mehreren Verlagen Anfragen, ob ich ein Buch schreiben möchte. So erfüllte sich mein heimlicher Wunsch, Bücher zu schreiben. Später setzte ich meinen Fussmarsch fort, hängte 500 Kilometer an, weniger zwanghaft als früher. Nun werde ich die Route in Kasachstan fortsetzen, später die usbekische Stadt Samarqand und Istanbul besuchen. Das Schöne ist, dass ich mir auf diesen Reisen nichts mehr beweisen muss – ich bin ja schon gescheitert und habe deshalb nichts mehr zu verlieren.

Ihr Video über Ihren Fussmarsch durch China ist über 12 Millionen Mal angeschaut worden. Wie erklären Sie sich dieses Echo?
Diese bärtige Robinson-Crusoe-Figur eignet sich wunderbar für alle möglichen Projektionen. Die Leute sehen mir zu und erkennen darin einen Teil von sich selber – den Abenteurer, den Heimatlosen, den Künstler, den Liebenden. Wie stark die Projektionen sind, zeigt sich daran, dass die Absender der Mails oft auf Dinge Bezug nehmen, die gar nicht vorkommen in meinem Film. Lustigerweise sind viele, die mir schreiben, 17-jährig. Wenn sie mich um einen Rat bitten, antworte ich ihnen: «Ein Abenteuer ist eine gute Sache, aber du musst keine Gipfel erklimmen oder Wüsten durchqueren, du kannst direkt vor deiner Haustür starten.» Bevor ich selber zum Autor wurde, habe ich über 100 Bücher aus dem Genre der Reiseliteratur gelesen. Das eindrücklichste war «Deutschland umsonst» vom Michael Holzach. Der Autor ging ohne Geld zu Fuss durch Deutschland. Kein Superman, keine Superlativen, aber ein unglaubliches Abenteuer.


19. und 26 November 2016