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«Wer alles verloren hat, kann viele Risiken eingehen»

Eigentlich wäre Dara Sadun gerne Anwalt geworden, aber als staatenloser Kurde hatte er in Syrien keine Chance. Als 21-Jähriger flüchtete er und gelangte nach Bern, mit 2.50 Franken in der Tasche. In wenigen Jahren stieg der heute 34-Jährige vom Asylbewerber zum Coiffeur-Lehrling und Unternehmer mit 9 Angestellten auf.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: Adrian Moser


Kontakt und weitere Informationen:
www.dara-hair-bern.ch oder dara.s@gmx.ch



Herr Sadun, Sie sind als Teil der kurdischen Minderheit in Syrien aufgewachsen. Hatten Sie einen Traumberuf?
DARA SADUN: Ich träumte als Kind davon, Anwalt zu werden. Doch nach der sechsten Klasse nahm mich mein Vater von der Schule. Er fand, es lohne sich nicht, mehr Zeit in Bildung zu investieren, da ich als Kurde ohnehin keine Perspektiven auf einen guten Job hätte. Ich arbeitete zwei Jahre lang mit meinem Vater im Gemüse- und Grosshandel, doch dann wollte ich mir etwas Eigenes aufbauen. Als 14-Jähriger lernte ich Coiffeur, mit 17 Jahren hatte ich ein eigenes Geschäft und trug etwas zum Familieneinkommen bei.

Warum gerieten Sie danach mit den Behörden in Konflikt?
Ein Coiffeursalon ist ein sozialer Treffpunkt, da erfährst du viele Geschichten und diskutierst über das Leben. Mich beschäftigte die Frage, warum es in Syrien drei Klassen von Menschen gab: Bürger mit Rechten, Fremde und Staatenlose ohne Rechte. Ich war nicht allein mit diesen Fragen. Mit der Zeit wurde mein Salon zu einem politischen Raum, wir tauschten uns aus, produzierten Flugblätter, sensibilisierten andere Kurden mit Filmen. Die Behörden reagierten rasch und brutal. Ich wurde zweimal verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und gefoltert, aber man fand keine belastenden Beweismittel. Beim dritten Mal beschlagnahmten sie bei mir zu Hause regimekritische Filme. Als ich davon erfuhr, wusste ich: Ich muss sofort weg. Sonst lande ich im Gefängnis und verschwinde spurlos.

Sie fürchteten um Ihr Leben?
Ja, ich sah noch ganz kurz meinen Vater und meinen jüngeren Bruder, der bereits das Totengebet für mich las. Dann tauchte ich bei Freunden unter und gelangte über eine Schlepperorganisation in die Türkei und von dort aus nach Basel. Die Flucht kostete meine Familie 6000 Dollar; die 500 Dollar, die ich auf mir trug, nahmen mir die Schlepper ebenso ab wie meine Taschen und Kleider. Als ich nach 14 Tagen nach Bern in die unterirdische Unterkunft im Hochfeld kam, hatte ich 2.50 Franken in der Tasche und keine Ahnung von der Kultur dieses Landes. Ich war mit 40 anderen in einem Raum untergebracht, darunter viele Kriminelle, viele Drogenhändler. Es war eine schwierige Situation, denn ich spürte keine Wertschätzung. Und doch war ich dankbar, ein Dach über dem Kopf zu haben und nicht mehr um mein Leben fürchten zu müssen. Ich wollte diese Chance unbedingt nutzen und beweisen, dass ich auch jemand bin, dass mein Leben einen Wert hat.

Wie haben Sie als 21-Jähriger Fuss gefasst in der Schweiz?
Zu Beginn war es sehr hart. Ich hatte keine Vorbilder, keine Mentoren – der leichteste Weg wäre gewesen, in den Drogenhandel einzusteigen, aber das verboten mir die Werte meiner Familie. Ein Schlüsselerlebnis war, dass mich eine Familie aus Hünibach, die ich im Zug kennen gelernt hatte, in ihr Herz schloss, mich regelmässig zu sich einlud, Ausflüge mit mir unternahm. Das half mir, richtig anzukommen, das Land mit anderen Augen zu sehen, Rückhalt zu spüren. Zusätzlich lernte ich sehr rasch Deutsch, um die Kultur besser zu verstehen.

Wie fanden Sie Arbeit?
Ich wurde bei 216 Bewerbungen nicht ein einziges Mal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Dann setzte sich das Leitungsteam des Zentrum5, eines Integrationszentrums für Migranten, für mich ein und ich fand dank seiner Hilfe eine Lehrstelle als Coiffeur. Am Anfang gab mir der Lehrmeister zu spüren, was er von mir hielt – einmal musste ich mit einer Zahnbürste auf einer 100-Quadratmeter-Fläche die Rillen zwischen den Plättli putzen. Bei der Abschlussarbeit wollte niemand die Gruppenarbeit mit mir machen. Also schrieb ich allein eine Arbeit über erfolgreiche Integration und erhielt dafür die Bestnote. Der erfolgreiche Lehrabschluss erfüllte mich mit Stolz. Wenige Monate später eröffnete ich in Bern an der Belpstrasse mein eigenes Geschäft. Und bevor Sie sich jetzt eine falsche Vorstellung machen: 90 Prozent meiner Kunden sind Schweizer. Die Kurden kamen meistens nicht zum Haareschneiden, sondern weil sie Hilfe brauchten im Umgang mit Formularen und Behörden.

Hatten Sie keine Bedenken, ob der Schritt in die Selbstständigkeit gelingt?
Wer alles verloren hat, kann viele Risiken eingehen. Ich wusste: Egal, wie schlimm es kommt, ich werde nie mehr so schlecht dran sein wie während der Flucht in einem Lastwagenanhänger. Das unterschied mich von Schweizer Kollegen, die wegen Kleinigkeiten jammerten. Viele junge Menschen sind sich nicht bewusst, wie verwöhnt sie sind, was sie alles in Angriff nehmen könnten, statt bequem den sicheren Weg zu gehen. Wenn du mit 9 Franken pro Tag gelebt hast, hast du bei einer Firmengründung nichts zu verlieren. Zudem war ich ein guter Netzwerker geworden und wusste, dass ich Kunden durch meine Arbeit und meine verlässliche Art überzeugen konnte. So baute ich mir über die Jahre hier etwas auf. Vor drei Jahren beteiligte ich mich an einer Autogarage, im vorletzten Jahr eröffnete ich ein zweites Coiffeurgeschäft in der Stadt Bern. Heute beschäftige ich 9 Mitarbeiter, die eine Art erweiterte Familie für mich sind. Und vor kurzem konnte ich in Lyss ein Haus für unsere vierköpfige Familie kaufen.

Und Ihre Eltern und Geschwister haben Sie nie mehr gesehen seit der überstürzten Flucht vor 13 Jahren?
Nur meine Schwester, sie lebt heute ebenfalls in der Schweiz. Meine Eltern habe ich nie mehr gesehen. Früher telefonierten wir täglich, heute muss ich mich eher dazu überwinden. Sie erzählen mir Geschichten von Leuten, die ich nicht kenne, und sie verstehen meinen Alltag, mein Leben nicht. Wir leben heute in verschiedenen Welten und haben uns nicht mehr viel zu sagen. Ich fühle mich heute den syrischen Kurden, die ebenfalls in Bern leben, näher. Sie haben in den letzten Jahren mindestens 30 Geschäfte in Bern aufgebaut und so ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt, dem Land, das sie aufgenommen hat, etwas zurückzugeben.


4. Februar 2017