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«Glaubt ihr da wirklich noch dran?»

Als McKinsey-Berater und Coach bekannter Konzernchefs blickte Frederic Laloux hinter die Fassaden vieler Unternehmen. Was er dabei sah, deprimierte ihn so sehr, dass er den Dienst quittierte und ein Buch darüber schrieb, wie Zusammenarbeit besser gestaltet werden könnte. Die Verehrung, die er seither erfährt, ist dem Belgier etwas unheimlich.

Interview: Mathias Morgenthaler  Foto: Robert Rieger


Kontakt und weitere Informationen:
www.reinventingorganizations.com

Herr Laloux, vor fünf Jahren ist Ihr Buch «Reinventing Organizations» erschienen. Sie beschreiben darin, wie Unternehmen ohne starre Hierarchie erfolgreich sind. Wie hat der Erfolg des Bestsellers Ihr Leben verändert?
FREDERIC LALOUX: Nicht sehr stark. Ich lebe ein schönes, einfaches Leben mit meiner Frau und unseren zwei jungen Kindern in einem Ökodorf in Ithaca im Bundesstaat New York. Ich reise sehr wenig, um Referate zu halten, im Durschnitt zwei Mal pro Jahr.
 
Eigentlich haben Sie sich um die Früchte Ihrer Arbeit gebracht. Nach dem Bucherfolg hätten Sie lukrative Beratungsmandate und Engagements als Referent annehmen können.
Mich überrascht, wie oft Leser mich darauf ansprechen. Offenbar gehen wir unbewusst immer vom Maximierungsgedanken aus, nach dem Motto: «Mehr ist immer besser.» Wenn man mehr Berühmtheit erlangen, mehr sprechen, mehr Geld verdienen kann, dann macht man das. Deshalb denken alle: Wenn sein Buch sich über 500’000-mal verkauft hat, geht der jetzt auf Tournee, hält fünf Vorträge pro Woche und baut ein Beratungsbusiness auf.
 
Geniessen Sie es denn nicht, dass Ihr Wort Gewicht hat, dass man Sie als Vordenker sieht?
Natürlich freue ich mich riesig, dass meine Untersuchungen und Gedanken so viel Anklang finden. Wenn ich an Anlässen teilnehme wie vor einiger Zeit in Hamburg am «New Work»-Event von Xing, schätze ich es, mich mit Interessierten direkt austauschen zu können. Aber es ist schon etwas unnatürlich, wie manche Leute mich auf einen Sockel stellen und kaum glauben können, dass der Laloux jetzt persönlich vor ihnen steht. Ich versuche dann immer, möglichst rasch vom Sockel runter- und in eine echte Begegnung einzusteigen. Aber ich bräuchte das nicht täglich.
 
Es schmeichelt doch dem Ego.
Ja, klar, da bin auch ich nicht immun. Zum Beispiel wird in den USA jeden Monat ein neues Managementbuch in der Presse abgefeiert – oft sind das Eintagesfliegen, die alte Rezepte aufwärmen und vollmundig mehr Marktanteile und Profit versprechen. Da regt sich mein Ego jeweils kurz auf, weil es findet, dass mein Buch die Aufmerksamkeit mehr verdienen würde, aber der Ärger verfliegt dann auch ganz schnell wieder.
 
Sie waren McKinsey-Berater und selbstständiger Coach von Top-Managern. Was war Ihr Antrieb, ein Buch zu schreiben und die Art, wie Unternehmen funktionieren, zu revolutionieren?
Ich musste das Buch einfach schreiben. Über das Warum oder die Wirkung habe ich mir wenig Gedanken gemacht. Vielleicht kennen Sie Elizabeth Gilbert, die Autorin des Bestsellers «Eat Pray Love». In einem anderen schönen Buch, «Big Magic», beschreibt sie, wie man ein kreatives, erfülltes Leben führen kann. Ein Grundgedanke darin lautet: Niemand hat eine Idee. Ideen sind eine Form von Energie, die sich jemanden aussuchen, der sich ihrer annimmt. Die meisten Künstler empfinden ihre Arbeit so: auf einmal ist eine Liedmelodie, eine Buchidee oder eine Gedichtzeile einfach da. So habe ich das mit dem Buch erfahren.
 
Aber Sie hatten doch als Berater jahrelang gesehen, wo der Schuh drückt in Unternehmen. War es keine bewusste Entscheidung, einen Gegenentwurf zu formulieren?
Ich war lange für McKinsey tätig. Irgendwann spürte ich, dass das nicht mehr mein Platz ist, und machte mich selbstständig als Coach für Führungskräfte. Das war eine fantastische Entscheidung: ich konnte tiefgründige Gespräche mit einflussreichen Leuten führen, verdiente gutes Geld und hatte viel freie Zeit für mein persönliches Leben. Ich war mir sicher, dass ich nun die nächsten 20 oder 30 Jahre so arbeiten würde. Doch irgendwann im März 2011 empfand ich eine tiefe Traurigkeit und Energielosigkeit. Ich konnte das zunächst gar nicht verstehen, es lief ja alles rund. Nach zwei bis drei Wochen realisierte ich, dass ich mitten in einem Abschieds- und Trauerprozess steckte; dass ich diese Arbeit nicht länger machen konnte.
 
Warum nicht?
Ich betrat immer wieder Lobbys von grossen Unternehmen, aus Marmor und Glas, grandios und gleichzeitig seelenlos und kalt; alle Leute dort waren gehetzt, eilten ins nächste Meeting, wo Budgets gesprochen und Quartalsziele verabschiedet wurden, und ich hätte am liebsten nur gefragt: Glaubt ihr da wirklich noch dran? Bis dahin genoss ich es, als junger Coach mit diesen grossen Egos zu arbeiten, zu beobachten, wie sie mit der Zeit die Maske ablegten im Gespräch mit mir und wir danach endlich die wirklich wichtigen Aspekte ihres Lebens besprechen konnten. Aber mit der Zeit wurde mir bewusst: Ich schaffe da nur kleine Fenster, Momente, in denen man etwas besser atmen kann; sobald ich weg bin, rennen alle wie vorher weiter in diesen ungesunden Strukturen. Da wurde mir bewusst: So will und kann ich nicht weitermachen.
 
Kein schöner Moment.
Es war für mich ein ganz bewegender, tiefer Moment – was wohl etwas pathetisch klingt, wenn man es nicht selber erlebt hat. Für mich war er so besonders, weil ich mir gar nicht die naheliegende Frage gestellt habe, was für einen Job ich machen soll, wie ich in Zukunft mein Geld verdiene werde. Stattdessen fragte ich mich: Was wäre das Sinnvollste, was ich jetzt machen könnte? Da tauchten zwei Ideen auf, eine davon war die Untersuchung, die am Ende zu diesem Buch geführt hat. Ich wollte wissen, ob es Unternehmen gibt, die nach anderen Prinzipien geführt werden und so erfolgreich sind.
 
Sie haben einige gefunden und zwölf davon detailliert beschrieben im Buch. Können denn auch grosse Unternehmen mit einer langen hierarchischen Tradition so geführt werden – zum Beispiel börsenkotierte Banken, Versicherungs- oder Pharmakonzerne?
Ja, ich habe Hoffnung, dass das möglich ist. Ich durfte in den letzten Jahren einige Gespräche führen mit Chefs von Weltkonzernen mit 100'000 oder 200'000 Angestellten. Und ich habe dabei einige tief schöne Personen angetroffen, die aus ganzem Herzen eine Transformation wollen. Natürlich sind solche Konzerne Tanker, die man nicht von heute auf morgen herumreissen kann, aber wenn der CEO den Wandel will und mit gutem Beispiel vorangeht, ist sehr viel möglich. Man kann Change nicht einfach als Projekt managen, man muss zusammen in eine neue Kultur hineinwachsen.
 
Was meinen Sie mit schönen Personen?
Führungskräfte, die selber einen Entwicklungsweg zurückgelegt haben, die ihr Ego im Griff haben, mit denen eine menschliche Begegnung möglich ist. Nehmen Sie das Beispiel des weltgrössten Sporthändlers Decathlon. Lange Zeit eröffnete Decathlon alle paar Jahre eine Filiale in einem neuen Land, weil alles von Paris aus zentral geplant und gesteuert wurde. Dann verschickte der neue Chef Michel Aballéa ein Mail an alle 80'000  Angestellten mit der Botschaft, jede und jeder könne ein neues Land eröffnen. In den letzten vier Jahren hat Decathlon so mehr neue Märkte erschlossen als vorher in 40 Jahren. Weil der Chef signalisiert: «Wenn ihr wollt, geht los und versucht es – wartet nicht auf eine Anweisung von oben.»
 
Eine Kassiererin kann doch nicht plötzlich eine Ländergesellschaft führen.
Zwei junge Frauen meldeten sich, weil sie in Südafrika mitten im Township eine Filiale eröffnen wollten. Wir können uns leicht vorstellen, dass sie dafür ungleich motivierter und besser vorbereitet waren als ein französischer Manager in Paris. Sie waren beseelt von der Aufgabe, den Sport auch für die Ärmsten zugänglich und erschwinglich zu machen. Natürlich konnten sie das nicht allein, man stellte ihnen erfahrene Spezialisten zur Seite. So wurde Decathlon in vielen Ländern rasch sehr erfolgreich. Weil der Chef verstanden hat, dass es nicht mehr zeitgemäss ist, zentral alles zu planen und die Details von oben herab vorzugeben. Sondern dass es viel wichtiger ist, einen Impuls zu geben, Einladungen auszusprechen; und dann die Zusammenarbeit zu orchestrieren, wenn die Dinge in Bewegung kommen. Dann sind Mitarbeiter nicht einfach Kostenstellen, die Jobprofile ausfüllen und funktionieren müssen. Alle Menschen sind im Grunde ein Wunder, niemand weiss, was für Dinge sie aus sich heraus ermöglichen können, bis man ihnen den Freiraum dafür schafft.


21. September 2019
Hier gehts zu Teil 2 des Interviews.