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«Die Stimme lügt nie, sie ist das Abbild unserer Seele und unser Indikator für Stimmigkeit»

Lehrerin, medizinische Praxisassistentin, Wirtin, Opernsängerin: Gabriela Ackermann hat vieles ausprobiert auf der Suche nach ihrer Berufung. Dann lenkte eine zufällige Begegnung ihr Leben in neue Bahnen. Ackermann verabschiedete sich von der Bühne, lernte das Singen neu und erforschte das Geheimnis der Stimme. Heute begleitet sie ihre Kunden nicht nur dabei, bessere Redner zu werden, sondern hilft ihnen auch, stimmige Entscheidungen zu fällen. Viele Mitteleuropäer seien «Weltmeister des Grosshirns», sehr kontrolliert und analytisch, aber abgekoppelt von ihren Instinkten, sagt Ackermann.

Interview: Mathias Morgenthaler


Kontakt und weitere Informationen:
www.gabrielaackermann.ch oder info@dogmafree.ch


Frau Ackermann, Sie sind als Sängerin, Therapeutin und Coach tätig und vermieten Ihr Bali-Haus mit idyllischer Gartenanlage an Hochzeitsgesellschaften oder Firmenkunden. Wie fanden Sie zu diesem besonderen Berufsmix?
GABRIELA ACKERMANN: Sie meinen, ob ich auch etwas Ordentliches gelernt habe? (Lacht) Ja, durchaus. Ich war ein vielseitig begabtes Kind, empfand das aber mehr als Last denn als Privileg. Ich beneidete alle, die in der fünften Klasse schon wussten, dass sie später Arzt oder Hebamme oder Physiker werden wollten. Die Frage, wozu ich auf der Welt bin, beschäftigte mich schon sehr früh – aber ich stand all den Optionen lange Zeit recht orientierungslos gegenüber. Ich bewunderte Menschen, die etwas mit voller Hingabe machten, hatte aber kein Gefühl für meine Berufung. Es hilft ja nicht viel, sich bei der Suche nach der eigenen Berufung an den Talenten zu orientieren. Oft liegt unsere Berufung dort verborgen, wo wir sie nicht vermuten, wo wir sie uns nicht wünschen würden – deswegen wehren wir uns dagegen, laufen erst einmal davon, stärken unser Ego. Wenn wir offen bleiben, dann holt uns die Berufung eines Tages ein.

Wie sind Sie davongelaufen?
Ich habe wie erwähnt ordentliche Berufe gelernt, den der Primarlehrerin und den der medizinischen Praxisassistentin. Zwischenzeitlich war ich sogar Präsidentin des Solothurnischen Lehrerverbands. Und ich führte nebenbei noch ein Restaurant von Freitag bis Sonntag. Entscheidend war aber, dass ich eines Tages eine Gesangsstunde nahm, obwohl ich mir nichts davon erhoffte – schliesslich war mein Bruder das musikalische Wunderkind gewesen, ich hatte jeweils die Begleitstimmen übernommen zu Hause. Nach der Probestunde entschied ich mich dann doch, Gesang zu studieren, und hängte nach dem Studienabschluss noch die Ausbildung zur Opernsängerin in Wien an. Das war brutaler Hochleistungssport, wir weinten dort täglich, so hart und unerbittlich waren die Dozenten. Danach machte ich als Sängerin in Österreich und Deutschland Karriere.

Hatten Sie damit eine Antwort gefunden auf die Frage, was aus Ihnen werden sollte?
Nein, ich hatte ein Metier erlernt und war in meiner Sparte erfolgreich, aber ehrlich gesagt war es ein einziger Albtraum, all die Dirigenten und ihre Launen zu ertragen. Man muss im Klassikbetrieb in sehr engen Strukturen funktionieren, es ist eine hierarchische Welt voller Eitelkeit und Narzissmus. Es hätte eine sehr dicke Haut gebraucht, um sich dort zu behaupten, und ich wollte mich genau in die entgegengesetzte Richtung entwickeln. Das begriff ich allerdings erst nach einem folgenschweren Zufall.

Was ist passiert?
Mein damaliger Mann, ein Arzt mit Spezialgebiet Innere Medizin, hörte im Autoradio, dass die deutsche Sängerin Brigitte Fassbaender in Bern einen Meisterkurs geben würde. Zu Hause angekommen, erzählte er mir davon und bot all seine Überzeugungskraft auf, damit ich dort hinginge. Ich sträubte mich zuerst und gab dann nach, weil er so sehr insistierte. Im Kurs lief zunächst alles in geordneten Bahnen ab, doch dann sang eine Mezzosopranistin «Die Nachtigall» von Alban Berg, und ich war komplett elektrisiert vom Klang ihrer Stimme. Ich fragte sie, wo sie studiert habe, worauf sie meinte, sie gebe mir die Adresse, aber ich solle nicht erschrecken, wenn ich ihre Lehrerin im Odenwald bei Darmstadt besuche.

Was hat Sie dort erwartet?
Ich ging mit der in Wien erlernten Spitzensportler-Haltung dorthin und traf eine ältere Frau, die schon optisch ein kompletter Gegenentwurf zu einer Operndiva war: wirres Haar, in sich versunken auf ihrem Stuhl, komplett uneitel. Nach einer Weile begann sie zu singen, und mir liefen augenblicklich die Tränen übers Gesicht, so sehr erschütterte mich dieser Klang. Ich begriff: Danach also habe ich ein Leben lang gesucht, dafür bin ich auf der Welt. Als sie zu singen aufhörte, fragte ich, was ich machen müsse, um diesen Weg zu gehen. Sie antwortete mir: «Hören Sie auf zu singen, und akzeptieren Sie, dass sie vielleicht nie wieder eine Arie singen werden.» Von dem Tag an habe ich 15 Jahre lang nur noch einen einzigen Klang gesungen, mehrere Stunden pro Tag. Und habe so nach und nach meine eigene Stimme kennen gelernt und darüber hinaus immer besser verstanden, was für ein wunderbares Organ die Stimme ist. Sie erlaubt uns, zu begreifen, wer wir sind, berührt zu sein von uns selbst, und andere zu berühren. Sie verschafft uns wieder Zugang zu unserem Körper, verbindet uns mit unserem Instinkt und kann uns dabei helfen, das autonome Nervensystem zu regulieren, das unseren Herzschlag, unseren Blutdruck, unsere Verdauung und vieles mehr steuert.

Das mag alles zutreffen, aber wie haben Sie damals darauf reagiert, dass diese Frau Ihnen quasi ein Berufsverbot auferlegt hat?
Sie hat mir nicht das Singen verboten, sie hat mir nur gesagt, welchen Preis ich zahlen muss, wenn ich diesen Weg gehen will. Für mich war das keine Frage. Ich spürte, dass diese Frau mir Zugang verschaffen konnte zur therapeutischen und spirituellen Dimension der Stimme. Dass ich meinen Beruf aufgeben musste, um meine Berufung zu entdecken, war für mich kein Hindernis. Und noch bevor ich mir hätte Gedanken machen können, wie ich meine Rechnungen künftig bezahlen sollte, erhielt ich gleich mehrere Anfragen von Kunden, die mit mir arbeiten wollten. Es war, als hätte ich in ein Wespennest gestochen, als hätten da draussen Menschen darauf gewartet, dass ich einen Schritt in diese Richtung machte.

Das klingt, als ginge alles ganz leicht, wenn man erst einmal das Richtige gefunden hat.
Nein, es ist alles andere als leicht – ich weiss schon, warum ich mich lange dagegen gesträubt habe. Finanziell habe ich alles auf eine Karte gesetzt, alle Sicherheiten aufgegeben. Es gab mehrmals Momente, in denen ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Doch jedes Mal, wenn ich ganz unten war, erhielt ich Unterstützung, öffnete sich eine Tür. So lernte ich, auf die innere Stimmigkeit zu vertrauen und nicht zu viel Energie aufzuwenden für Planung und Absicherung. Ich brauche keine Sicherheit, mir kommt es auf Liebe, Lebendigkeit und Entwicklung an.

Stichwort Lebendigkeit: Viele Reden lassen einem als Zuhörer kalt. Wie kann man lernen, eine gute Rede zu halten?
Die kürzeste Antwort lautet: Bringen Sie Ihre Stimmbänder in ihre biologisch ganzheitliche Schwingung, so erzeugen Sie unmittelbare Resonanz. Sie können endlos am Wortlaut einer Rede feilen, die Haltung, Mimik, Gestik und den Sprechrhythmus einüben, am Ende wird Ihr Stimmklang darüber entscheiden, ob Sie andere berühren, ob Sie authentisch wirken. Die Stimme lügt nie, sie ist das Abbild unserer Seele und unser Indikator für Stimmigkeit. Wenn jemand unter grossem Druck steht und ängstlich ist, schlägt sich das sofort in der Stimme nieder, sie klingt dann dünn, gepresst oder forciert. Wenn dagegen auch hohe Frequenzen – die sogenannten Sängerformanten – im Stimmklang erscheinen, wird die Stimme ohne Anstrengung tragfähig und stimulierend für die Zuhörenden.
Wo setzen Sie an, wenn ein Manager seine Aussenwirkung verbessern will?
Die meisten Manager sind Weltmeister des Grosshirns, kontrolliert und analytisch sehr stark, aber sie wissen wenig über sich selber und leben abgekoppelt von ihren Instinkten. Kürzlich fragte ich einen Kunden, den Chef einer grossen Firma: «Wo lebst du eigentlich – auf dem Mars? Jedenfalls nicht im eigenen Körper.» Ich bin die Anwältin des Hirnstamms, der in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft sträflich vernachlässigt wird, weil wir meinen, uns bei allem aufs Grosshirn stützen zu müssen. Dabei werden 70 Prozent unserer Entscheidungen im Hirnstamm gefällt, dort ist unser Instinkt angesiedelt und dort wird unser vegetatives Nervensystem gesteuert. Der Hirnstamm entscheidet über unser Überleben und ist deshalb wichtiger als das limbische System (Emotionen) und das Grosshirn (Denken).
Und wie bringen Sie die Menschen wieder in Berührung mit ihrem Hirnstamm?
Indem ich sie mit ihrem biologischen Stimmklang bekannt mache. Wenn Menschen die körperliche Funktion ihrer Stimme kennenlernen, dann hören sie nicht nur, wer sie sind, sondern sie spüren es auch über die Vibration im eigenen Körper. Es geht dabei nicht darum, ob jemand gut oder rein singen kann, sondern darum, Atem, Klang und Körper in eine harmonische Übereinstimmung zu bringen. Wenn dies gelingt, kommen wir zur Ruhe, sind berührt von uns selber und fühlen uns friedvoll verbunden mit der Welt. Wenn unsere Stimme ganzheitlich vibriert, kommen unser Ego und die rotierenden Gedanken zur Ruhe, wir spüren unseren Körper besser und verfügen schon nach kurzer Zeit über mehr Energie. Und weil unsere Stimmbänder über den Vagus-Nerv mit dem Hirnstamm verbunden sind, können wir über die Vibration unserer Stimme auch das autonome Nervensystem und damit Organe wie Darm, Herz, Niere, Lunge oder Gewebe positiv beeinflussen. Es geht bei der Arbeit mit der Stimme also nicht nur darum, besser zu klingen, besser anzukommen, sondern auch darum, innerlich in Einklang zu kommen, sich mit seiner biologischen Natur zu verbinden.
Und das versetzt uns in die Lage, auch unsere innere Stimme wieder zu vernehmen, sprich: ein besseres Gefühl für die Stimmigkeit von Entscheidungen zu bekommen?
Ja, wer seinen Stimmklang kennt, der merkt leicht, wenn die Stimme nicht mehr gesund im Körper vibriert. Bei Entscheidungsfragen kann man zwei Handlungsoptionen neutral formulieren und in beiden Fällen seine Stimme befragen – wenn Sie sich die stimmigere Antwort innerlich klar vor Augen führen, wird ihre Stimme dabei spürbar besser klingen. Wenn wir wieder lernen, besser zu horchen, zu sehen und zu spüren, müssen wir uns weniger den Kopf zerbrechen und erkennen intuitiv, was richtig ist. Naturvölker sind uns darin überlegen, wir dagegen wissen bestenfalls noch, was wir nicht mehr wollen, haben aber kein Gefühl mehr für Stimmigkeit.
Mit welchen Beschwerden kommen Menschen zu Ihnen in die Therapie?
Der Auslöser ist meistens eine Krisensituation: ein Manager zum Beispiel, der unter Tinnitus, innerer Unruhe und Schlafstörungen leidet und nicht mehr richtig entspannen kann. In solchen Fällen ist der Hirnstamm meistens komplett aktiviert, in permanentem Alarmzustand, das Gefühl für den eigenen Körper dagegen fehlt. Da geht es darum, Menschen über eine leichte Trance in die Entspannung und eine bessere Selbstwahrnehmung zu führen. Auch bei Trauma-, Schock- und Burnout-Patienten arbeite ich mit der Elastizität des Nervensystems. Das Wichtigste ist, die Elastizität zwischen tiefer Entspannung und hoher Anspannung wieder zurückzugewinnen. Der Weg zur Höchstleistung führt immer über die Entspannung. Es kommen immer wieder auch Kunden, die keinen akuten Leidensdruck haben, aber die vielen Möglichkeiten der Stimme noch besser nutzen wollen oder sich schlicht Energie-Wellness gönnen.
Welche Rolle spielen die vielen archaischen Figuren hier im Bali-Haus bei Ihrer Arbeit?
Wir sind hier in der Schweiz sehr stark auf die Grosshirn-Intelligenz und die im limbischen System gespeicherten Emotionen fixiert – unsere Verbindung zum Körper, zu unseren Instinkten und zur Natur ist dagegen eher schwach. Es geht dabei auch um unsere Rückverbindung zum grossen Universum, das uns umgibt, um das Gefühl des Aufgehoben-Seins, das uns einen sorgfältigen und achtsamen Umgang mit anderen lehrt. Das alles ist im Wort Religion enthalten. So verstandene Religion führt zu einem friedlicheren Umgang mit uns selber und anderen. Die Anbetung des Materiellen hingegen schenkt uns keine innere Ruhe. Wir leiden unter einer zu hohen Aktivierung des autonomen Nervensystems und bekämpfen einander, um unser Ego zu stärken. In dieser Hinsicht können wir von Kulturen wie der balinesischen viel lernen. Ich war sofort berührt von den Menschen und Ritualen in Bali und habe mit meinem Bali-Haus einen Kontrastraum in der westlichen Welt geschaffen, wo man rauschende Feste feiern, singen und sich Gutes tun kann.


28. Juli und 4. August 2018