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«Meine grösste Angst ist, dass ich Erfolg haben werde»

Zehn Jahre lang hat Gian-Luca Sabato an einem Naturholzhocker gearbeitet, der bewegliches Sitzen begünstigt. Nun bringt der 46-Jährige sein persönlichstes Objekt mit gemischten Gefühlen auf den Markt: Der Hocker steht nicht nur für die Hingabe des Handwerkers, sondern auch für die in der Kindheit erlittenen Verletzungen.

Interview: Mathias Morgenthaler


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Kontakt und weitere Informationen:
www.sysmo.ch oder luca.sabato@sysmo.ch

Herr Sabato, Sie haben 10 Jahre Arbeitszeit in die Entwicklung eines speziellen Naturholzhockers gesteckt. Waren Sie immer ein solcher Perfektionist?
GIAN-LUCA SABATO: Nein, zu Beginn meiner Berufslaufbahn war ich pragmatisch unterwegs. Ich lernte Bauzeichner, fand es aber mit der Zeit nicht befriedigend, so viel im Büro zu sitzen – die Arbeit war mir zu kopflastig. Ich absolvierte deshalb eine Zusatzlehre als Maurer, um die praktische Seite dazuzugewinnen und mit anderen etwas aufzubauen. Was mir von Anfang an klar war: Ich brauche Sinn und Freude in meiner Arbeit. Vielleicht ist das eine naive Sicht, aber ohne diese zwei Zutaten geht es bei mir nicht.

Wie kamen Sie als Maurer mit dem Element Holz in Berührung?
Mein Vater machte sich als Antikmöbelschreiner selbständig. Ich teilte das Atelier mit ihm, entdeckte die Formensprache der Natur, die keine Geraden kennt, aber viele Variationen von Bögen. So übernahm ich zunächst Reparaturarbeiten und gestaltete dann eigene Möbel. Aber meine Formensprache blieb immer unpersönlich, in Funktion zum Gegenstand. Mir fehlte etwas, aber ich wusste nicht was, und so machte ich mich auf die Suche, obwohl ich nichts verloren hatte.

Wonach suchten Sie?
Rückblickend wohl nach einer Versöhnung mit meiner schwierigen Kindheit und nach der inneren Erlaubnis, etwas Persönlicheres zu schaffen, mich künstlerisch mit den vielen Eindrücken auseinanderzusetzen, die ich empfing. Schon als kleines Kind nahm ich viele Informationen intuitiv über die Sinne auf, ohne sie logisch zu verarbeiten. Im Kindergarten und in der 1. Klasse wurde das zum Stress. Ich sprach zuhause Italienisch, mit anderen Kindern ab und zu Französisch. So hatte ich grosse Mühe, dem Unterricht in Deutsch zu folgen. Ich setzte alles daran, mich anzupassen und nicht aufzufallen, aber wenn wir im Kreis einer nach dem anderen vorlesen sollten, wurde meine Atmung ganz flach, mein Zwerchfell rebellierte und wenn ich dann endlich an der Reihe war, begann ich zu stottern statt zu lesen. Ich versuchte, alle möglichen Situationen gedanklich vorwegzunehmen, aber es half nichts. So sass ich versteinert an meinem Platz und konnte mich nicht mitteilen.

Und später haben Sie dem Kind, das Sie waren, einen Stuhl gebaut?
Ja, so sehe ich das heute. Ich hatte damals keinen Halt und keinen Bewegungsspielraum. Dank meiner handwerklichen Erfahrung konnte ich mich konstruktiv mit diesem Schmerz auseinandersetzen. Und so schaffte ich über die Jahre einen
Naturholzhocker, der aus mehreren beweglichen Elementen besteht und so quasi die Wirbelsäule bis hinunter zum Boden verlängert. Die Idee dazu hatte ich beim Anblick eines Forellenskeletts. Dann sah ich in einem Dok-Film, wie ein Känguru sich auf seinen Schwanz setzte und so stabil und mit der Erde verbunden war. Sich frei bewegen zu können und trotzdem Halt zu haben, verbunden zu sein mit dem Boden und doch dynamisch – diese Vision liess mich nicht mehr los. So entwickelte ich einen modularen Hocker mit Wirbelteilen aus Ahorn- und Nussbaumholz, Gelenkkörpern aus elastischem Kunststoff und einer weichen Sitzfläche, die sich der Physiognomie des Nutzers anpasst.

Warum hat die Entwicklung ganze zehn Jahre gedauert?
Zum einen, weil ich komplett unerfahren war und dadurch zu sehr ins technisch-medizinische Milieu abdriftete. Plötzlich ging es um die Frage, wie ergonomisch mein Hocker war, ob er Rückenschmerzen verhindern helfe und dergleichen. So sah ich mich plötzlich in physikalische Berechnungen und medizinische Diskussionen verwickelt, dabei bin ich ein Amateur, den – wie der Begriff sagt – die Liebe antreibt. Ich brauchte viele Umwege, um zur Essenz zurückzufinden, zur geführten Bewegung. Eigentlich ist der Sysmo ein Spazierstuhl. Wenn ich auf ihm an einem Tisch sitze, ist es, als würde ich einen Spaziergang machen. Ich bin in Bewegung, nehme alle Körperteile besser wahr, komme vom Kopf in den Körper. Umso berührender war es für mich, als ein Arzt meinen Hocker erst betrachtete und später ausprobierte und mir schliesslich sagte, es wäre eine Ehre für ihn, ein solches Unikat zu besitzen. Trotz ermutigender Rückmeldungen spürte ich aber eine Angst, den Sysmo-Hocker auf dem Markt anzubieten. Das hat wohl damit zu tun, dass es ein sehr persönliches Objekt ist, das mich mit meiner Kindheit verbindet.

Was ist Ihre grösste Angst?
Meine grösste Angst ist, dass ich mit dem Produkt Erfolg haben werde. Das klingt paradox, ich weiss, aber die Erforschung und Entwicklung des Sysmo war ein sehr persönlicher Prozess des Suchens und Verstehens, eine zehnjährige Arbeit mit einer Mischung aus Hingabe und Besessenheit. Nun ist das Patent angemeldet und im Prinzip ist alles parat für die Produktion und Vertriebspartnerschaften. Und gleichzeitig fühle ich mich nicht bereit, da rauszugehen, mich zu zeigen, darüber zu reden – weil ich nicht abschätzen kann, was dann passiert. Ich habe in den letzten Tagen sicher 20 Interviews mit Ihnen geführt in Gedanken, um auf alles vorbereitet zu sein, und nun ist doch alles ganz anders. Was mir Mut macht, ist die Erfahrung, dass ich es immer als Geschenk empfunden habe, wenn sich Künstler geöffnet haben und ihre Passion geteilt haben trotz Sensibilität und Angst. Deshalb wäre es unverzeihlich, so sehr dafür zu brennen und damit in den eigenen vier Wänden zu bleiben. So hoffe ich nun, dass der Stuhl für mich sprechen wird und ich gar nicht so viel dazu sagen muss.


16. Dezember 2017