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«Warum soll ich mich verbiegen, wen ein anderer es besser macht?»

Manche Firmengründer klammern sich bis ins hohe Alter an den Chefsessel. Hermann Arnold hat einen komplett anderen Weg gewählt. Er übergab die Verantwortung für die Haufe-Umantis AG vor drei Jahren an Marc Stoffel. Da der 40-jährige Gründer im Unternehmen blieb und in Projekten mitarbeitete, erhielt er nun plötzlich Anweisungen vom früheren Praktikanten. Kann das gut gehen?

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


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www.haufe.com oder hermann.arnold@haufe.com


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Vom Praktikant zum demokartisch gewählten Firmenchef: Der aktuelle Haufe-umantis-Chef im Interview mit Beruf+Berufung.

Herr Arnold, Sie sind einer der Gründer des Software-Unternehmens Umantis und haben dieses 13 Jahre lang geführt. Wie schwer ist es Ihnen vor drei Jahren gefallen, den Sessel zu räumen für Ihren Nachfolger?
Hermann Arnold: Ich hielt mich nie für unersetzlich, sondern sagte immer: Ich bleibe, solange es niemanden gibt, der es besser macht und den wir uns leisten können. Bei Gründern ist die Gefahr gross, dass sie zum Flaschenhals werden und das weitere Wachstum des Unternehmens behindern. Oft klammern sie sich aus dem Gefühl der Unersetzlichkeit an ihren Job. Ich habe versucht, dem vorzubeugen, seit mich meine drei Mitgründer damals zum Chef ernannt hatten. So arbeitete ich relativ lange auf einem Holzstuhl, um mir und den Mitarbeitern klarzumachen, dass ich keine Privilegien für mich in Anspruch nehme. Es gab Mitarbeiter, die wussten noch zwei Monate nach dem Eintritt ins Unternehmen nicht, dass ich der Chef bin.

Wann haben Sie gemerkt, dass der heutige Chef Marc Stoffel womöglich besser ist als Sie?
Das war, als wir je ein zeitkritisches Projekt leiteten und im Projekt des anderen mitwirkten. Das öffnete mir die Augen. Ich bin der klassische Gründer, der die Machete herausholt, einen Weg durch den Dschungel bahnt und vorangeht. Solche Typen braucht es. Es braucht aber auch die, welche den Trampelpfad breiter machen. Mir wurde bewusst, dass ich sehr viel selber machte und immer darauf achtete, meine Leute nicht zu sehr zu belasten. Marc Stoffel nahm da weniger Rücksicht. Er mutete seinen Leuten unglaublich viel zu – zu viel, wie ich fand. Was ist passiert? Das Ergebnis war in seinem Projekt markant besser. Und die Leute in seinem Team waren euphorisiert und stolz auf das Erreichte. Mir wurde klar, dass ich sie durch meine Rücksicht kleingehalten hatte; und dass das womöglich nicht nur für das eine Projekt, sondern für die gesamte Unternehmensführung galt.

Keine schöne Erkenntnis. Sie hätten auch versuchen können, sich zu verbessern, statt die Chefposition an jemanden abzugeben, der als Praktikant unter Ihnen angefangen hatte.
Unser damaliger Verwaltungsratspräsident fragte mich: «Willst du nicht lernen, professioneller CEO zu werden?» Ich fragte zurück: «Warum soll ich mich selbst verbiegen, wenn ein anderer es besser macht?» Es geht ja nicht darum, es richtig zu machen, sondern, das Richtige zu tun. Ich sah es als Chance, zurückzutreten und meinen Nachfolger Marc Stoffel zu unterstützen. Welcher Firmenchef hat schon jemanden im Team, der seine Situation kennt und ihm offenes Feedback geben kann?

Wie haben die Mitarbeiter und Kunden reagiert? War es nicht schwierig, dass Sie als langjähriger Chef in der Firma blieben?
Ich nahm eine 100-tägige Auszeit, damit Marc Stoffel sich frei entfalten und ich meine Rolle neu definieren konnte. Es war interessant zu sehen, was sich durch den Rollenwechsel alles veränderte. Kurz bevor Marc Stoffel die Leitung übernahm, hatten wir ein Treffen mit zwei potenziellen Partnern. Zu Beginn redeten beide nur mit mir, beachteten ihn kaum. Als wir den bevorstehenden Wechsel erwähnten, änderte sich das schlagartig. Da hätte ich den Raum verlassen können, ohne dass es bemerkt worden wäre. Dieses und weitere Erlebnisse zeigten mir: Ob wir Gehör finden und was wir gelten, hängt viel stärker von unserer Rolle als von unserer Persönlichkeit ab. Das sollte man sich als Chef immer bewusst machen. Eines Tages fragte mich mein Nachfolger, warum viele Projekte ohne ihn nicht vom Fleck kämen. Ich antwortete ihm sehr direkt, das habe weniger mit seiner Intelligenz zu tun als damit, dass er CEO sei und die Mitarbeiter von ihm Entscheidungen erwarteten. Wer lange Chef ist, riskiert, früher oder später der Illusion zu erliegen, er sei der Beste, Schnellste, Klügste.

Sie plädieren aus diesem Grund für Spiral-Karrieren statt linearen Aufstieg, empfehlen gelegentliches Zurücktreten und Reflexion statt nur Aufstieg und Machtsicherung. Wie kommt diese Botschaft an?
Es ist kein Thema, mit dem man Popularitätswettbewerbe gewinnt. Ende November hielt ich einen TEDx-Talk in Berlin und stellte mich als Ex-CEO vor. Schon während des Redens merkte ich, dass die Zuhörer innerlich unbeteiligt sind, nach dem Motto: «Was geht mich das an?» Nach meinem Auftritt kamen einige Frauen auf mich zu und gratulierten mir zum Mut, öffentlich über meine Niederlage zu reden. Die männlichen Zuhörer suchten das Weite, als hätten sie Angst davor, sich mit dem Verlierer-Virus anzustecken. Meine Kernbotschaft, dass temporäres Zurücktreten sowohl die Führungskraft als auch das Unternehmen voranbringt, ist nicht wirklich durchgedrungen. Aber es gibt auch ermutigende Signale. So hat Lufthansa kürzlich entschieden, alle Führungspositionen ausdrücklich nur noch temporär zu besetzen. In Vereinen und Freiwilligen-Organisationen ist das Zurücktreten ins Glied ja breit akzeptierte Praxis.

Sind auch schon andere Führungskräfte bei Haufe-Umantis wieder ins Team zurückgetreten?
Ja, es haben mehr als zehn Personen ihre Führungsverantwortung abgegeben und wieder Projektaufgaben übernommen. Die letzte Vorgesetzte, die sich dafür entschieden hat, nachdem das Feedback kritisch ausgefallen war, erntete stehenden Beifall an unserem Strategie-Wochenende. Leicht ist das trotzdem nicht, es fliessen oft Tränen, aber es ist wichtig, dass ein solcher Schritt ohne Gesichtsverlust möglich ist. Ich bin überzeugt, dass die betreffende Mitarbeiterin später wieder Führungsaufgaben übernehmen und es viel besser machen wird. Wir sollten uns von ein paar veralteten Vorstellungen lösen. Etwa der, dass man ein Berufsleben lang nur aufsteigt oder sich oben hält. Und der, dass nur Chefs richtig gut verdienen. Ein differenzierteres Karriereverständnis und ein weniger rigides Lohngefüge würden auch das Problem entschärfen, dass Angestellte über 55 oft frühpensioniert werden und kaum mehr eine neue Chance erhalten.


Sie haben vor drei Jahren die Führung von Haufe-umantis an Marc Stoffel übergeben. Sie schildern den Wechsel an der Spitze so, als wären Sie komplett frei von Egoismus und Narzissmus. Mussten Sie nach der Übergabe der Führungsverantwortung nie leer schlucken?
Doch, es gab solche Momente. Den ersten schon kurz nach meiner Rückkehr. Ich kam ins Unternehmen zurück mit der Vorstellung, mich fortan – vom Alltagskram entlastet – strategischen Fragen widmen zu können. Da bat mich Marc Stoffel, im Produktmanagement für ein paar Monate einzuspringen, bis ein neuer Mitarbeiter gefunden war. Aus den paar Monaten wurde ein Jahr. Und aus dem früheren Praktikanten Marc Stoffel war mein Chef geworden, der mir auch mal nonchalant eine Anweisung gab, wie ich das nie gemacht hätte. Überhaupt machte er vieles anders. Da musste ich mir mehr als einmal in Erinnerung rufen: Wenn er es besser machen soll, muss er es anders machen. Aber klar, manches kratzt schon am Ego. Es gibt beim Internet-Auftritt von Haufe-umantis eine Visionsseite. Da sind Fotos und Zitate von Management-Pionieren wie Henry Ford, Peter Drucker oder Semco-Chef Ricardo Semmler versammelt. Als Abschluss auch Marc Stoffel. Ich war da nicht erwähnt.

Das hat Sie gekränkt?
(Lacht) Ich habe das zwei Jahre lang ausgehalten. Seit drei Monaten bin ich nun auch auf der neuen Seite vertreten.

Das Beispiel zeigt doch: Als Gründer, Verwaltungsratspräsident und bedeutender Teilhaber verfügen Sie vermutlich immer noch über mehr Macht als Ihr Chef.
Es geht nicht primär um Macht, sondern um unterschiedliche Rollen. Marc Stoffel wurde nun zum dritten Mal in Folge von einer überwältigenden Mehrheit der 200 Angestellten zum Unternehmenschef gewählt. Ich lerne viel von ihm in der Projekt- und Unternehmensführung, erlebe das Team wieder von innen und kann Marc dank meiner Erfahrung gut unterstützen. Natürlich hat mein Wort mehr Gewicht als das eines neu eingetretenen Mitarbeiters. Meistens schicke ich eine Art Disclaimer voraus, wenn ich eine Frage stelle, im Sinne von: «Das ist weder Kritik noch Aufforderung, sondern lediglich eine Frage…» Ja, ich verfüge über informelle Macht – das liegt aber mehr daran, dass andere mir sie zuschreiben, als dass ich sie in die Waagschale werfen würde. Alleinige Macht hat bei unserem Organisationsverständnis ohnehin niemand, die Macht liegt bei der Gesamtheit der Mitarbeiter, Kunden und Aktionäre. Entscheidend ist, dass wir alle in unterschiedlichen Rollen dazulernen. Macht über längere Zeit korrumpiert immer, entweder dich selber oder dein Umfeld.

Gleichwohl dürfte Ihnen der Schritt leichter gefallen sein, weil Sie einer der grösseren Aktionäre des Unternehmens sind.
Stimmt, ich profitiere als Aktionär davon, wenn der neue Chef seine Sache besser macht als ich das gekonnt hätte. Ich musste mir aber auch mehrfach die Frage anhören, was in mich gefahren sei, die Leitung einer Firma abzugeben, die mir teilweise gehört. Als Mitgründer ist man dem Unternehmen emotional und finanziell stark verbunden, entsprechend schlimm wäre es, wenn ein anderer die Firma gegen die Wand fahren würde.

Haben Sie mit den Funktionen auch die Löhne getauscht?
Ja, das gehörte dazu. In den meisten Fällen zahlen wir aber jemandem, der von seiner Führungsfunktion zurücktritt und wieder im Team mitarbeitet, einen leicht höheren Lohn als Teammitgliedern ohne Führungserfahrung. Oft übernehmen solche Mitarbeiter eine Brückenfunktion zwischen Team und Vorgesetztem. Zudem können sie dem Vorgesetzten als interner Coach wertvolle Rückmeldungen geben, die man sonst für teures Geld extern einkaufen müsste.

Für Sie bedeutete der Wechsel unter dem Strich: weniger Lohn, weniger Einfluss, weniger Ansehen. Warum haben Sie sich trotzdem dafür entschieden und wie überzeugen Sie andere Führungskräfte, es Ihnen gleich zu tun?
Ich sehe das als Investition in meine Karriere. Hätte ich eine MBA-Führungsausbildung absolviert, hätte das mehrere zehntausend Franken gekostet. So verzichte ich auf ein wenig Einkommen, lerne aber mehr und profitiere in Sachen Lebensqualität. Als Chef ist man an allen Fronten gefordert, es bleibt wenig Zeit für die Reflexion. Ich habe mir durch das Zurücktreten auch mehr Ruhe und Zeit zum Verdauen und Nachdenken geschenkt. Das färbt auf die Freizeit ab. Der Kompensationsdruck auf die Wochenenden ist markant gesunken.

Welche Funktion haben Sie heute im Unternehmen?
Ich bin heute als Ermutiger tätig – und zwar intern und extern. Das beinhaltet, dass ich in unserer Organisation dazu ermutige, Dinge auszuprobieren, die auch nach hinten losgehen können. Und dass ich unsere Erfahrungen kondensiere und reflektiere. Mich treibt die Frage um, wie die Arbeitswelt der Zukunft aussehen wird, wie agile Führung funktioniert, wie sich Unternehmen im Zuge der Internetrevolution verändern. Erste Antworten habe ich im Buch «Die Entzauberung des Chefs» niedergeschrieben, das im Juni erscheinen wird.

Was wird sich in der Arbeitswelt fundamental ändern in den nächsten Jahren?
Starre Strukturen werden aufbrechen. Das gibt mehr Freiheiten, aber auch mehr Verantwortung. Hollywood hat uns dies bereits vorgemacht. Während der goldenen 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts waren Filmstudios vollkommen vertikal integriert. Sie besassen Filmgelände, Studios, Kameras, Kinos und hatten Schauspieler auf der Lohnliste. Heute finden die Akteure für ein Projekt zusammen, koordiniert von Agenten. Auch in der restlichen Arbeitswelt wird sich künftig vieles in offenen Netzwerken abspielen. Zentrale Plattformen werden Projekte, Geldgeber und Spezialisten befristet zusammen bringen. Diese werden mich durch die vielen verfügbaren Daten auch in meiner Entwicklung beraten können. Die Unternehmen werden flacher und kleiner werden, die Firmengrenzen durchlässiger. Wichtiger als mein Arbeitgeber wird mein Netzwerk sein und die kontinuierliche Weiterentwicklung und Schärfung meiner Kompetenzen.


19. und 26. März 2016