Externe Seite: marie_and_michael_tuil.jpg

«Wir bauen eine direkte Brücke von Äthiopien in die Schweiz»

Vor einem Jahr haben Michaël und Marie Tuil ihr Leben auf den Kopf gestellt: Der Unternehmensberater und die Journalistin gaben ihre Jobs auf und kauften äthiopischen Kleinbauern knapp 2 Tonnen Kaffee ab. Seither betreiben die beiden in ihrer Einzimmerwohnung in Zürich das soziale Start-up «Direct Coffee». Ein Teil jeder Bestellung fliesst in soziale Projekte im Anbaugebiet.

Interview: Mathias Morgenthaler    Fotos: zvg


Kontakt, weitere Informationen und Daten der Vorträge:
www.directcoffee.net oder www.fb.com/directcoffee.net


marie_und_michael_in_der_schule_small.jpg

Die sozialen Projekte sind ein wichtiger Pfeiler des Unternehmens. Marie und Michäel Tuil umgeben von Schulkindern im Kaffeeanbaugebiet in Äthiopien.

marie_und_michael_in_addis_abeba_von_wo_aus_der_kaffee_seine_reise_in_die_schweiz_antritt.jpg

Marie und Michaël Tuil vor dem Kaffeeberg in Addis Abeba, bevor die Bohnen die Reise in die Schweiz antreten.

marie_und_michael_bei_einer_kaffeeverkostung.jpg

Kaffeeverkostung im Impact Hub Zürich.


Herr Tuil, Sie haben an der HSG Wirtschaft studiert und waren bis Ende letzten Jahres als Unternehmensberater tätig. Jetzt importieren Sie äthiopischen Kaffee und verkaufen ihn in der Schweiz. Was ist dazwischen passiert?
MICHAËL TUIL: Zunächst waren da unsere Flitterwochen in Äthiopien im Sommer 2015. Wir lernten das Land kennen, die Kaffeekultur und die extrem gastfreundlichen Menschen. Ich arbeitete damals schon viel mit Afrika, wir lebten auch dort, aber Äthiopien hat uns besonders geprägt. Ein paar Monate später war ich für ein Projekt in Kolumbien und Marie, meine Frau, als Journalistin in München. Wir waren in einer Phase, in der wir neue Wege gehen wollten, um eine gemeinsame Basis zu finden. Ich wollte aber auch weiterhin mit Afrika arbeiten. Da kam eines Tages im November diese Mail von Marie…
MARIE TUIL: Ich sass bei der «Süddeutschen Zeitung» im Büro und hatte kurzzeitig keine Aufgabe. Deshalb recherchierte ich in eigener Sache: Was tun Unternehmensberater, wenn sie aussteigen? So fand ich eine Geschichte über einen Berater, der zum Kaffeeimporteur geworden war und mit den Einnahmen soziale Projekte verwirklichte. Ich schickte Michaël den Link von München nach Bogota mit der Frage, warum wir das nicht auch machen. Kurz darauf kam seine Antwort: «Machen wir!»

Wie wird man in so kurzer Zeit zum Start-up-Unternehmerpaar?
MICHAËL TUIL: Ich reichte gleich darauf ein Sabbatical-Gesuch ein, Marie kam nach Kolumbien und wir machten vor Ort einen Crash-Kurs für Kaffeekäufer. Als Berater und Journalistin waren wir es beide gewohnt, uns rasch in eine Thematik einzuarbeiten. Im Januar waren wir schon in Äthiopien, suchten unseren Kaffee aus, trafen uns mit den Kleinbauern und importierten anschliessend die ersten 1,8 Tonnen Kaffee. Die Anfangsinvestition betrug 15’000 Franken, das war überschaubar. Stärker fällt der Lohnverzicht ins Gewicht. Wir arbeiten beide seit Anfang Jahr Vollzeit für Direct Coffee, beziehen aber noch keinen Lohn. 2017 soll sich das ändern.

Im Kaffeemarkt geben Weltkonzerne den Ton an mit Werbeträgern wie George Clooney oder Robbie Williams. Auch die Nachhaltigkeits-Nische ist bereits besetzt. Hat Sie das nicht entmutigt?
MARIE TUIL: Wir verfolgen einen anderen Ansatz, den des direkten Handels. Bisher war es in Äthiopien üblich, dass die Bauern ihren Kaffee an Kollektoren verkaufen, welche ihn dann an die Börse bringen. Bis der Kaffee dann in der Tasse landet, verdienen noch viele Instanzen mit. Fairtrade ist eine gute Sache, aber sie ändert nicht grundsätzlich etwas an dieser Konstellation. Wir bauen stattdessen eine direkte Brücke zwischen den Bauern in Äthiopien und den Konsumenten in der Schweiz. Wir zahlen deutlich höhere Preise als der Grosshandel mit Fairtrade-Labels, bekommen dafür aber auch Kaffee, der im Wald handgepflückt statt auf einer Plantage angebaut wird. Und wir haben uns von Anfang als soziales Start-up definiert. Der soziale Impact ist für uns eine grosse Motivationsquelle.

Was bedeutet das konkret?
MARIE TUIL: Ganz egal, ob die Kunden bei uns Kapseln, gemahlenen Kaffee oder Kaffeebohnen bestellen: Pro Päckchen unterstützen sie ein Kind der Kaffeebauern. Und sie können das soziale Projekt selbst auswählen. Ich habe mich an der Universität in Zürich mit Experimentalökonomie befasst und dadurch auch mit der Frage, wie in der Entwicklungshilfe Geld möglichst effektiv eingesetzt werden kann. Diese Erkenntnisse nutzen wir. Zum Beispiel bleiben während der 2-monatigen Erntezeit viele Kinder der Kaffeebauern der Schule fern. Deshalb haben wir Frühstück mit Brot und Honig in der Schule angeboten und damit den Kindern Lust auf Schule gemacht. Es hat gewirkt. Zudem haben wir an einem einzigen Tag den 870 Kindern der Schule Entwurmungspillen gegeben und Sehtests durchgeführt. Inzwischen haben alle von einer Sehschwäche betroffenen Kinder eine Brille, was laut einer Studie den Lernerfolg um 50 Prozent erhöhen kann. Davor hatte kein einziges Kind eine.
MICHAËL TUIL: Dazu kommt der Umgang mit den Produzenten auf Augenhöhe. Wir zeigen unseren Kunden in der Schweiz Bilder von genau den Kleinbauern, die ihren Kaffee anbauen – und den Bauern in Äthiopien Fotos von den Kaffeetrinkern hier. Sie freuen sich sehr darüber. Nur das mit den Kapseln ist für sie ein Rätsel: Sie können sich nicht vorstellen, dass man so etwas braucht um Kaffee zu machen. Im ländlichen Äthiopien rösten die Frauen jeden Morgen die grünen Kaffeebohnen von Hand.

Dieser soziale Ansatz ist schön für die paar Hundert Menschen, aber entmutigt es Sie nicht manchmal, wie wenig ein solches Engagement an der grossen globalen Ungleichheit ändert?
MARIE TUIL: Nein, im Gegenteil, es ist eine grosse Motivation zu erleben, was sich alles in kurzer Zeit realisieren lässt. Wir haben unser soziales Start-up im April gegründet und im ersten Halbjahr schon drei Projekte realisiert. Jede Bestellung macht die Welt ein kleines bisschen besser. Im Sommer haben wir zum Beispiel das Produkt «Cold Brew» lanciert, kalt gebrühten Kaffee, der 24 Stunden in kaltem Wasser zieht und dann gefiltert und in Fläschchen abgefüllt wird. Auch hierbei galt: Pro Flasche wird ein Kind entwurmt. Finanziert haben wir unsere erste Abfüllung über Crowdfunding.
MICHAËL TUIL: Wir stehen erst am Anfang: Mit einem Container Kaffee können wir etwa 28‘000 Kinder unterstützen. Es gibt ja nicht nur Privatpersonen, die gerne Kaffeegenuss und soziales Engagement verbinden, sondern auch Unternehmen, die hier mehr Verantwortung übernehmen möchten. Der Kunde weiss bei uns, wer seinen Kaffee unter welchen Bedingungen angebaut hat und welche Anteile seines Geldes wohin fliessen. Ich habe als Unternehmensberater zum Beispiel für ein sehr grosses Projekt zum Gesundheitswesen in Nigeria gearbeitet, aber da war ich weit weg von der Umsetzung. Heute sehe ich die Wirkung meiner Arbeit viel direkter.

Wie haben Sie gelernt, mit weniger Geld auszukommen? Als Berater haben Sie sehr gut verdient, derzeit beziehen Sie keinen Lohn und leben zu zweit in einer 35-Quadratmeter-Einzimmerwohnung, die gleichzeitig Büro und Lagerraum ist.
MICHAËL TUIL: Ich habe früher in sehr teuren Restaurants und Hotel verkehrt, aber ehrlich gesagt hat mir das nie einen besonderen Kick gegeben. Vieles ist im Luxussegment standardisiert, oft ist die Atmosphäre unterkühlt, die Leute sind eher distanziert. Heute Abend werden wir in unserer Einzimmerwohnung die ganze Nachbarschaft zu Gast haben. Das wird sehr eng und sehr schön werden. Es gibt nichts Beglückenderes, als viel zu lernen, etwas unmittelbar Sinnvolles zu tun und mit interessanten Menschen zu tun zu haben. So gesehen fehlt es uns an nichts.
MARIE TUIL: Es gibt so viele Freizeitbeschäftigungen, die kaum etwas kosten. Statt eines Segelboots haben wir einen gebrauchten, aufblasbaren Katamaran im Keller, mit dem wir die Seen im Sommer erkunden. Wir gehen oft wandern und laden Freunde zu uns ein, statt in Restaurants essen zu gehen. Und nicht zu vergessen: Wir können sehr viel Zeit zusammen verbringen, sogar die Geschäftsreisen.

Ist das nicht manchmal schwierig, wenn Sitzungstisch und Schlafzimmer keine zwei Meter auseinanderliegen?
MARIE TUIL: Das Positive überwiegt eindeutig. Wir ergänzen uns sehr gut, das haben wir schon bei der Planung unserer Hochzeit gemerkt. Aber es braucht klare Abmachungen. Abends und am Wochenende reden wir nicht über die Arbeit – wenn einer von uns um 22 Uhr eine gute Idee hat, besprechen wir das erst am nächsten Morgen.


24. Dezember 2016