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Wenn der Pharma-Manager sich freiwillig zur «Gehirnwäsche» meldet

Dass ein Student Direktor wird, ist keine Seltenheit – das Umgekehrte schon eher. Nach 24 Jahren im Dienst der Novartis hatte Mario Grossenbacher genug von der strikt leistungsorientierten Konzernwelt. Der 43-Jährige kündigte seinen Direktoren-Job, gab Haus und Auto auf und nahm Anfang Oktober in Bern die neue dreijährige Vollzeitausbildung zum Kaospiloten in Angriff.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: Adrian Moser


Kontakt und weitere Informationen:
www.kaospilots.ch oder mario@kaospilots.ch

 

Herr Grossenbacher, Sie haben sich vom Laboranten bis ins weltweite Management-Team von Novartis hochgearbeitet. Warum haben Sie Ihren gut dotierten Job aufgegeben?
Nach 24 Jahren im gleichen Konzern wurde ich betriebsmüde. Zwar wurde mir intern nochmals ein toller Job angeboten, aber mir wurde in dem Moment klar, dass ich mich nicht mehr frei fühlte bei Novartis. Der Leistungs- und Uniformitätsdruck war enorm, ich musste mich immer mehr verbiegen, um den Ansprüchen des zunehmend angelsächsisch geprägten Unternehmens zu genügen.

Woran merkten Sie das?
Früher war die Schweizer Kultur noch stärker ausgeprägt. Ich konnte alle wichtigen Dinge offen ansprechen. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Ich hatte zunehmend das Gefühl, ich müsse mich taktisch verhalten. Novartis hat eine extrem leistungsorientierte Firmenkultur. Bei mir meldete sich immer dringlicher die Sinnfrage. Ich wusste zum Teil nicht mehr, wozu das alles gut war, für welchen Zweck ich Tag und Nacht arbeitete. Klar, ich hatte viele Privilegien und verdiente gut, aber weil die Lebensqualität litt und ich mich in einem Korsett fühlte, brauchte ich immer mehr Geld, um mit Materiellem zu kompensieren, was mir an Sinn fehlte. Ich kaufte zum Beispiel ein teures Auto und funktioniert weiter.

Dann muss man eher fragen: Warum sind Sie 24 Jahre geblieben?
Ich verdanke Novartis sehr viel. Schon mit 29 Jahren durfte ich als Einkaufs-Abteilungsleiter viel Verantwortung übernehmen. Dann arbeitete ich drei Jahre als Auditor in der internen Revision. Das war die interessanteste Aufgabe, die ich mir vorstellen konnte. Ich besuchte Konzerngesellschaften auf der ganzen Welt. Als Auditor lernte ich in kurzer Zeit sehr viel über verschiedene Geschäftsbereiche, über unterschiedliche Märkte und Kulturkreise. Die Schattenseite war, dass ich praktisch kein Privatleben mehr hatte. Drei Wochen war ich mit einem kleinen Team unterwegs, arbeitet von früh bis spät und lebt in Hotels aus dem Koffer. Nach drei Wochen zuhause peilte ich die nächste Destination an. Im ersten Jahr luden mich die Freunde noch auf ihre Partys ein, irgendwann fragten sie mich nicht mehr, weil sie annahmen, ich sei sowieso nicht da.

Sie haben viel Managementerfahrung und einen MBA-Titel in der Tasche. Warum absolvieren Sie jetzt eine Ausbildung, die in der Schweiz offiziell keine Akzeptanz hat?
Als ich mir im letzten Jahr bei Novartis regelmässig die Sinnfrage stellte, wurde mir bewusst: Ich habe 24 Jahre lang getan, was andere von mir verlangten. Es gab für mich in dieser Zeit praktisch kein Leben ausserhalb des Konzerns, ich wurde sozialisiert und eingeschworen auf Leistung und Karriere, auf Zielerreichung, koste es, was es wolle. Weil mir etwas fehlte, begann ich, in der raren Freizeit Menschen zu unterstützen, die beruflich ihren Traum verwirklichten. Meine Nachbarin, eine Opernsängerin, unterstütze ich bei der Organisation von Events, einem Freund half ich, eine Firma aufzubauen. Dann erfuhr ich von Matti Straub, den ich als Berater bei Novartis kennengelernt hatte, dass er eine ganzheitliche Führungsausbildung in der Schweiz lancieren wollte. Das gab mir den Anstoss, etwas zu ändern, mich in Richtung Selbständigkeit zu bewegen. Mir war aber klar: Eine Konzernkarriere bereitet dich kein bisschen auf die Selbständigkeit vor – schon gar nicht, wenn man dem folgen will, was einen wirklich interessiert.

Bis im letzten Jahr bezogen Sie einen hohen Lohn plus Bonus, jetzt zahlen Sie 16’000 Franken Studiengebühren im Jahr. Wie schwer fiel das Loslassen?
Zunächst war ich einige Zeit handlungsunfähig aus Verlustangst. Konzerne wie Novartis geben dir ja den Eindruck, es gebe keinen anderen Weg als die Karriere in diesem Unternehmen. Erst die Konfrontation mit ganz anderen Lebensentwürfen brachte mich in Bewegung. Ich erhielt auch extern sehr gute Jobangebote, aber die Lust, etwas Eigenes aufzubauen, war grösser als die Angst, das Bestehende aufzugeben. Irgendwann schalteten alle Ampeln auf grün, die Bedenken waren weg. So gab ich Haus und Auto auf, beendete meine langjährige Beziehung, mietete eine kleine Wohnung und wagte einen Neuanfang. Hilfreich war bei diesem Prozess die Erinnerung an eine Reise, die ich mit 18 Jahren unternommen hatte. Da war ich fast ohne Geld und ohne jede Ahnung nach New York, Miami, Los Angeles, San Francisco, Mexiko, Guatemala, Hongkong und durch Thailand gereist und hatte die Erfahrung gemacht: Wer aufbricht, findet immer einen Weg und Verbündete. Ich hatte 300 Dollar pro Woche und war leicht und glücklich. Ich kann jedem empfehlen, in jungen Jahren mit wenig Geld und Sprachkenntnissen eine Reise zu machen.

Seit Oktober sind Sie mit 14 Mitstudierenden in der Ausbildung zum Kaospiloten und werden unter anderem in Projektmanagement geschult. Lernen Sie da viel?
Zunächst ist der Klassenmix sehr bereichernd. Natürlich weiss ich mehr über Projektmanagement als die 21-jährige Mitstudentin. Aber die Frage, wann ein Projekt ein «Wow-Projekt» ist, fordert auch mich heraus. Bei Novartis interessierte es niemanden, ob jemand mit innerer Leidenschaft bei der Sache war. Alle waren getrieben von der Performance – das ist nicht immer gesund, wenn es der einzige Massstab ist.

Und jetzt können Sie drei Jahre lang in einer geschützten Werkstatt Ideen entwickeln?
Nein, keine geschützte Werkstatt, wir realisieren schon in den ersten Monaten Projekte für externe Auftraggeber. Aber es geht zunächst um sinnvolle Projekte und eine ganzheitliche Ausbildung, nicht ums Geld. Viele Kollegen fragen mich: «Warum brauchst du eine dreijährige Vollzeitausbildung?» Wohl vor allem deshalb, um aus den alten Mustern herauszukommen. Nach 24 Jahren Konzernwelt brauche ich eine Art «Gehirnwäsche», um später etwas Eigenes realisieren zu können. Eindrücklich ist für mich zum Beispiel, dass wir jedem Thema so viel Zeit geben, wie es braucht. Dadurch gibt es kaum Missverständnisse, wir müssen nicht zurück. Bei Novartis gab es Zeiten, da hatte ich einmal pro Monat ein Zeitfenster von fünf Minuten mit meinem Chef. Da war alles auf Tempo getrimmt. Und wir lernen hier viel genauer, was Selbstführung heisst, wo jeder seine Stärken und Limitierungen hat und wie man in einer Gruppe damit umgehen kann.

Können Sie sich vorstellen, nach der Ausbildung wieder in einem Konzern zu arbeiten?
Kaum, zur Zeit kann ich mir nicht mehr vorstellen, Tag und Nacht die Vorgaben von Chefs zu erfüllen. Ich will selbständig etwas aufbauen und sinnvolle Projekte realisieren. Dank der Ausbildung habe ich Zeit, das Richtige zu finden. Es gibt hier viel Inspiration, die Kombination aus einfachem Studentenleben und breit gefächertem Lernstoff lässt die Ideen sprudeln. Ich will damit nicht sagen, dass eine Konzernkarriere schlecht sei. Aber je länger ich weg bin, desto klarer merke ich, dass es für mich nicht länger das Richtige war. Es ist gar nicht so einfach, in dieser Frage ehrlich mit sich selber zu sein – aber sehr befreiend, wenn man es schafft.


Januar 2013