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«Erst durch die Beschäftigung mit dem Tod habe ich richtig leben gelernt»

Jura-Studium, Firmengründung, Firmenverkauf und Beförderung zum Europa-Chef von Blackberry: Markus Müller hat eine glänzende Karriere absolviert. Die Schattenseite war, dass er keine Freunde hatte und keine Ahnung, wer er war. Heute, zwei Jahre nach seinem Ausstieg, arbeitet der 43-Jährige als Sterbebegleiter und Tantra-Masseur.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: Adrian Moser


Kontakt und weitere Informationen:
www.tantralove.ch oder markus@markuscmueller.com



Sie haben direkt nach dem Studium der Rechtswissenschaften eine Firma gegründet. Hatten Sie keine Lust, Anwalt oder Richter zu werden?
Nein. Ich war auch kein typischer Jura-Student. Vor dem Studium hatte ich die Waldorfschule nach Rudolf Steiner absolviert und mich dann zum Polizisten ausbilden lassen. Danach erinnerte ich mich daran, dass mir mein Grossvater gesagt hatte, er hätte Jura studiert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte; was man in diesem Studium lerne, könne man bei allen wichtigen Entscheidungen im Leben brauchen: beim Heiraten, beim Hauskauf, beim Unterzeichnen eines Arbeitsvertrags oder bei der Firmengründung.

Hat Ihnen das Studium geholfen auf dem Weg zum Unternehmer?
Ja, später war das oft nützlich, aber für die Gründung war anderes wichtiger. So war ich während des Studiums in acht verschiedenen Jobs tätig und merkte dabei vor allem, was alles nicht in Frage kommt. Schliesslich bekam ich die Aufgabe, für die Firma Palm in der Werbung zu arbeiten. Die stellten damals die besten persönlichen digitalen Assistenten (PDAs) her, Vorläufer der heutigen Smartphones, erste Alternativen zur Papieragenda. Ich ging für Palm an die Computermesse Cebit. Wir wurden überrannt von Kunden. Ich hatte keine freie Sekunde zum Durchatmen und begriff, dass da ein gigantischer Markt entstand. Ein ungelöstes Problem war, wie die Arbeitgeber auf die Entwicklung reagierten. Mitarbeiter kauften die Geräte privat, synchronisierten ihre Daten – ein Horrorszenario für alle IT- und Sicherheitsspezialisten. Entsprechend oft tauchte die Frage auf, wie die PDAs sicher ins Firmennetzwerk eingebunden werden könnten. Antworten hatte damals niemand.

Das war der Startschuss für Ihre Unternehmerlaufbahn?
Ja, ich setzte mich mit einem Freund in ein Café und wir diskutierten, was wir den Unternehmen anbieten könnten. Ich vergesse nie mehr, wie euphorisiert ich war von der Chance, als Pionier etwas Eigenes zu lancieren. Bald hatte ich eine Beratungsfirma mit 10 Mitarbeitern aufgebaut, die bei tiefen Fixkosten gute Erträge erwirtschaftete.

So war es nie eine Option, nach dem Studium eine gut dotierte Stelle anzutreten?
Doch, ich hatte sogar einen Vertrag der Münchner Rück auf dem Tisch, den ich nur noch hätte unterzeichnen müssen. Der Vorstandsassistentenjob wäre der klassische Einstieg zu einer Konzernkarriere gewesen, aber mich hat damals die Freiheit viel mehr angezogen als die Sicherheit. Es war allerdings ein beschwerlicher Weg. 2005 baute ich die Firma von einem Beratungs- in eine Softwareentwicklungs-Haus um. Das Ziel war, Unternehmen dazu zu befähigen, die Smartphones ihrer Mitarbeiter aus der Ferne zu verwalten. Die Programmierer mit den erforderlichen Fachkenntnissen fanden wir schliesslich in der ukrainischen Stadt Kharkov. Wir nahmen in drei Runden knapp 5 Millionen Euro auf, wuchsen rasch, expandierten in die USA, wo der grösste Markt war. 2008 legten wir in Boston los, dann ging Lehman Brothers pleite und alle Firmen froren wegen der Finanzkrise ihre Investitionen ein. Im Frühling 2009 hatten wir unser Geld aufgebraucht. Wir schlossen den Standort in den USA, entliessen 25 von 50 Angestellten, standen aber trotzdem am Abgrund.

Wie konnten Sie den Konkurs abwenden?
Am Tag, als ich das Insolvenzgericht benachrichtigen wollte, rief ein Investor an und versprach nochmals 1 Million Euro – wobei wir sehr harte Forderungen akzeptieren mussten. Das war der Wendepunkt. Im 2010 boomte der Markt, wir hatten plötzlich die Wahl zwischen einer grossen Finanzierungsrunde und dem Verkauf der Firma. Mir wurde in diesem Moment bewusst, dass das Timing vermutlich der mächtigste Erfolgsfaktor ist. Plötzlich interessierten sich viele grosse Player und Risikokapitalgeber für uns, wir waren unter anderem mit Google, Apple und McAfee in Kontakt. In letzter Minute erhielten wir schliesslich ein fantastisches Kaufangebot von Blackberry. Der Verkauf war eine grosse Story, nicht nur des mittleren zweistelligen Millionenbetrags wegen, sondern auch, weil sich Blackberry damit für andere Betriebssysteme von Smartphones öffnete. Ich integrierte unsere Firma Ubitexx während zweier Jahre in die Blackberry-Strukturen und wollte danach gehen. Doch ich erhielt immer mehr Verantwortung, wurde zuerst Deutschland-Chef bei Blackberry, später Europa-Chef und damit verantwortlich für 1 Milliarde Dollar Umsatz und 2000 Angestellte.

Eine Traumkarriere.
Ja, ich hätte nie gedacht, so weit nach oben zu klettern auf der Karriereleiter. War ich glücklich, als ich es geschafft hatte? Nein, ich war zunächst heillos überfordert. Erstens war ich der Typ, der gerne etwas aufbaut, und nicht der Manager, der sich in Konzernstrukturen wohl fühlt und an seiner Macht berauscht. Wenn ich vor 1000 Leuten sprechen musste, fühlte ich mich als Schauspieler. Zweitens gibt es kein Ankommen, keine Stufe, auf der du dir sagst: Jetzt hast dus geschafft. Und ganz konkret war ich überfordert, weil ich kurz nach der Ernennung zum Europa-Chef Hunderte von Stellen abbauen musste, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Italien. Am Anfang geht es einem unter die Haut, Leute zu entlassen, dann merkt man, wie man abstumpft, weil man es sonst nicht schaffen würde. Ich verdiente sehr gut, hatte einen Chauffeur und viele Leute, die sich um meine Gunst bemühten. Aber ich hatte weder Freunde noch eine Beziehung und vor allem keine Ahnung, ob das sinnvoll war, was ich da tat.

Wann haben Sie sich entschieden auszusteigen?
Im Dezember 2014 sah ich in einer Buchhandlung ein kleines Buch mit dem Titel «5 Dinge, die Sterbende bereuen». Ich las in diesem Moment nur den Titel und den Text auf der Rückseite, und diese wenigen Sätze haben mich bis ins Mark getroffen. Mir wurde schlagartig klar, dass ich mein Leben vergeudete, mir selber fremd geworden war, sinnlose Dinge tat. Ich kündigte, wurde kurz darauf freigestellt und flog noch am gleichen Abend für 6 Wochen nach Thailand, wo ich allmählich zu mir kam. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich kein Ziel mehr, was sehr qualvoll war. Ich wollte mir etwas gönnen, buchte nach meiner Rückkehr aus Thailand teure Ferien in Südafrika und sass niedergeschlagen in einem luxuriösen Apartment ohne die geringste Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte.

Gab es keine Jobangebote?
Doch, sehr verlockende sogar, aber ich wollte nicht mehr zurück in diese Welt, wo alles dem schnellen Profit untergeordnet war. In dieser Zeit der Orientierungslosigkeit las ich einen Artikel über Sterbehilfe und staunte, wie mich das durchschüttelte. Ich nahm die Ausbildung zum Sterbebegleiter in Angriff, begann, mich mit dem Tod und anderen existenziellen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen. Während des Praktikums begleitete ich drei betagte Menschen, die zuhause sterben wollten, zwei davon bis in den Tod. Ich glaube, erst durch die Beschäftigung mit dem Tod habe ich richtig leben gelernt. Die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit gab mir ein Gefühl für Prioritäten im Leben, relativierte das Ego, die Eitelkeit, den Stolz. Ich begriff, wie stark im Business alle von Angst getrieben waren. Mein Chef hatte oft Metaphern aus der Kriegsführung verwendet, Angst als Druckmittel eingesetzt. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber und hilft nicht beim Wachsen.

Sie müssten aus finanziellen Gründen nicht mehr arbeiten. Geniessen Sie dieses Privileg?
Ich bin mir bewusst, dass es ein Privileg ist. Es ist aber auch schwierig, angesichts aller Optionen das Richtige zu tun. Eine Möglichkeit wäre, mich noch mehr in der Sterbebegleitung zu engagieren. Nicht nur einzelne Menschen zu begleiten, sondern mitzuhelfen, dass wir den Tod wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zurückholen, statt ihn zu verdrängen und den Umgang damit an Mediziner zu delegieren. Ich lebe der Liebe wegen seit einiger Zeit in Bern und könnte mir gut vorstellen, hier ein Hospiz zu gründen; ein Sterbehaus mitten in der Stadt, mit Informationen über den Tod und Veranstaltungen. Ein zweites wichtiges Standbein sind für mich die Tantra-Massagen. Tantra ist kein geschützter Begriff und deshalb ein weites Feld zwischen simplen Bordellen und Massagen auf spiritueller Grundlage. Für mich ist es eine sehr erfüllende Tätigkeit, einen Menschen tief zu berühren. Zu den Kunden gehören nicht nur Frauen, die allein sind oder in einer langjährigen Beziehung ohne Sinnlichkeit leben; es kommen auch jüngere Menschen, die im Zeitalter von Internetpornos aufgewachsen sind, sich unter Druck fühlen und lernen wollen, sich zu öffnen, weich und berührbar zu werden.

Sie sind bei weitem nicht der einzige Manager, der sich mit harten Bandagen nach oben kämpft und dann aussteigt, um die Spiritualität zu entdecken. Wäre es nicht besser, das System zu verändern, statt sich mit dem vielen Geld der Selbstverwirklichung zu widmen?
Integration wäre immer das Beste, aber ich persönlich habe es nicht geschafft, diese beiden Welten zusammenzubringen. Grosse Organisationen zu verändern, ist praktisch unmöglich. Leichter ist es, etwas Neues aufzubauen und dafür zu sorgen, dass dort wichtige Werte gelebt werden. Früher war es mir wichtig, etwas Grosses zu schaffen. Heute konzentriere ich mich bewusst erst einmal auf mich bei der Veränderung und dann auf mein nächstes Umfeld. Wenn dank meiner Arbeit ein Mensch zuhause mit einem guten Gefühl sterben kann, ist das eine grosse Sache in meinen Augen. Ich muss heute niemandem mehr etwas beweisen. Ich wünschte, ich hätte mich früher mit der Sexualität und dem Tod auseinandergesetzt, diesen beiden grossen Themen des Lebens. Und ich bin dankbar, das jetzt tun zu können. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, noch einmal diese Euphorie zu erleben wie vor der ersten Firmengründung, in einem Team noch einmal etwas bewegen zu können, das mich ganz ausfüllt.


4. Februar 2017