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«Wer nach sich sucht, blickt zuerst in einen Abgrund»

Es ist nicht der Erfolg, der uns wachsen lässt, sondern es sind die Enttäuschungen und die Konfrontation mit unserer Vergänglichkeit. Diese Erfahrung prägt Markus Widers Arbeit. Nachdem er selber eine lange Initiation bei Indianervölkern durchlaufen hat, begleitet er heute andere bei einschneidenden Veränderungsprozessen. Er vermittelt keine Erkenntnisse, sondern körperliche Erfahrungen.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
markus.wider@socialinput.ch


Die Schwitzhütte: ein zentrales Ritual bei der Visionssuche

 

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Herr Wider, viele Menschen sehnen sich danach, nicht nur einen Job zu machen, sondern ihre Berufung zu finden und leben. Wie gelingt das am besten?
MARKUS WIDER: Die Frage lautet doch eher: Warum wehren sich viele so heftig dagegen? Die Berufung zu finden, ist oft kein Vergnügen. Meistens ist es mehr eine Frage des Eingestehens als des Träumens und Idealisierens. Sich etwas einzugestehen, braucht Ehrlichkeit, Mut und Demut. Wer sich zu sehr dem Träumen hingibt, läuft Gefahr, sich zu verlieren. Dazu kommt, dass wir hier im Westen ja dazu neigen, uns extrem wichtig zu nehmen, unseren Individualismus auf die Spitze zu treiben – und das hat mit Berufung nichts zu tun. Es hilft, wenn wir verstehen, dass wir als Einzelne nicht so grausam wichtig sind. Dadurch erlangen wir eine klarere Sicht auf die Welt und damit auch ein wenig Autonomie, die uns für Kooperationen öffnen kann. Wenn wir unsere Berufung finden wollen, müssen wir also zunächst lernen, unser Ego zu beruhigen und es ein bisschen zurückzustellen.

Wie haben Sie beruflich Fuss gefasst nach der Schule?
Ich habe es mir und meinen Lehrern schwer gemacht. Die Schulzeit war eine einzige Katastrophe, ich rebellierte gegen alle und alles, wollte mich nicht einordnen, zeigte null Interesse. Entsprechend überschaubar waren meine Optionen beim Berufseinstieg. Ich wurde Tankwart bei der Ford-Garage Willy in Bern. Später fiel ich durch die Aufnahmeprüfung an der Kunstgewerbeschule und studierte schliesslich über den zweiten Bildungsweg Katechetik und Theologie. Die Arbeit als Lehrer und Laientheologe in einer Kirchgemeinde füllte mich allerdings nicht aus. So absolvierte ich zusätzlich die Ausbildung zum Sozialarbeiter und suchte parallel nach alternativen spirituellen Ansätzen. Auf einer meiner Reisen kam ich in Nordamerika in Kontakt mit Indianervölkern. Die erste Annäherung verlief eher unglücklich, weil ich um ein Haar einem Schamanen die Frau ausgespannt hätte.

Was haben Sie bei den Lakota-Indianern gelernt?
Ich liess mich in Nordamerika in den Neunzigerjahren in die Zeremonien dieser Stämme initiieren. Dazu gehörten Rituale wie Schwitzhütten, Sonnentanz, Piercings und das Aufgehängt-Sein zwischen Leben und Tod. Das sind alles radikale und ganzheitliche Zugangsweisen zu den essenziellen Fragen. Die Naturvölker schaffen durch ihre Riten Erfahrungsräume, in denen man auf sehr unmittelbare Weise mit der Angst, dem Sterben, der geistigen Natur und der Erfahrung des Überlebens konfrontiert wird. Es sind einschneidende körperliche Erfahrungen, keine intellektuellen Auseinandersetzungen.

Inwiefern waren diese Erfahrungen hilfreich für Ihren weiteren beruflichen Weg?
Die Initiation zog sich über 15 Jahre hin. Parallel dazu arbeitete ich über längere Zeit mit einem Hinterhof-Schamanen in Malaysia. «Hinterhof», weil er innerhalb der vom Islam dominierten Region keine offizielle Stellung hatte, sondern bloss eine geduldete Figur war. Sein Rat, seine Gebete und seine schamanistischen Heilungen waren allerdings sehr begehrt bei Bauern, Ärzten, Managern, Politikern. Diese Begegnung und die Initiationen der Indianer waren sehr wichtig für meine Läuterung und Reifung. Der Schamane half mir, mich von vielen normativen Glaubenssätzen und falschen Vorstellungen über mich und die Welt zu befreien. Über diesen Weg fand ich zu meinem Platz, zu meiner Aufgabe im Grossen und Ganzen. In dieser Zeit wurde mir auch klar: Es ist nicht der Erfolg, der die persönliche Entwicklung in Gang setzt, sondern es sind all die Enttäuschungen, das Loslassen und das Sterben. Wenn man körperlich an die Grenze kommt, an der die Dinge in sich zusammenfallen, und erlebt, wie neues Leben gerade aus diesem Sterben entsteht, erhält man eine Ahnung vom Geheimnis des Lebens.

Ganz prosaisch gefragt: Wovon haben Sie gelebt in dieser Zeit?
Je weiter ich auf diesem Weg ging, desto klarer wurde mir, dass eine Anstellung schon aus organisatorischen Gründen nicht passte. So gründete ich eine Firma und entwickelte Angebote für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt. Es waren unkonventionelle Ansätze, die erfolgreich waren, sodass ich die Verantwortung bald aufteilen konnte und mehr Zeit fand, mich dem zu widmen, was mich wirklich interessierte: diesen spirituellen Prozess weiter voranzutreiben.

Sie führen zum Beispiel mit kleinen Gruppen Visionssuchen (Vision Quests) durch. Dabei sind die Teilnehmer während vier Tagen und Nächten in der Natur, ohne Nahrung, ohne Kommunikation. Was bringt das?
Dieses starke «Auf sich selbst bezogen werden» in der Visionssuche führt dazu, dass die ersten Fassaden, das Konstrukt der eigenen Person, durchlässig werden und etwas anderes durchschimmern kann. Wer nach sich sucht, blickt zuallererst in einen Abgrund, eine gähnende Leere. Die meisten fürchten sich davor, darum füllen sie im Alltag ja auch jede leere Minute aus: jede News, jede belanglose Kurzkommunikation sind uns lieber als dieser Blick ins Leere. Wenn wir uns aber auf diesen Raum einlassen, wird alles um uns lebendig, und die Natur tritt mit uns in Kommunikation und zeigt uns, dass es in dieser dunklen Leere ein Licht gibt. Diese Erfahrung ist überwältigend und stärkt das Vertrauen ins Leben, sodass anstehende Entscheidungen danach getroffen werden können.

Das klingt fast schon kitschig: Die Natur weist uns den Weg.
Es gibt so viele Beispiele aus meiner 15-jährigen Erfahrung, die illustrieren, wie wichtig die Natur als Spiegel und Kommunikationspartner ist. Ein Teilnehmer, der gerade Konkurs hatte anmelden müssen mit der vom Vater übernommenen Firma, erschien in sehr instabiler Verfassung zur Visionssuche. Als er am ersten Morgen in der Wildnis erwachte, realisierte er mit Erstaunen, dass ein Wildschwein neben ihm lag und ihm den Rücken wärmte. Das Tier wusste genau, was dieser Mann brauchte: Halt und Präsenz. Das Wildschwein liess ihn die Erfahrung machen, dass es in aller Leere Verbindung gibt, dass er nicht alleine ist.

Die Tiere öffnen den Suchenden die Augen?
Es gibt immer wieder solche Phänomene. Ich erinnere mich an eine 32-jährige Frau, die sehr früh Mutter geworden war und danach zwei Leben lebte: eines als Familienfrau und ein zweites, verborgenes, wo sie ihre wilden Seiten auslebte, was immer das Risiko beinhaltete, damit das erste Leben zu zerstören. Sie wurde auf der Visionssuche von einer Schafherde besucht. Ein Schaf wich nicht mehr von ihrer Seite, blickte sie einfach an, und nach ein paar Stunden starb es ohne Zeichen der Auflehnung vor ihren Augen. Dieses Schaf zeigte der Frau, dass es in allem Sterben etwas Aufmerksames und Ruhiges gibt. Dies weckte bei ihr die Bereitschaft, mit ihrem alten Leben abzuschliessen und ganz Ja zu sagen zu ihrem Leben als Mutter und Frau.

Viele Seminare erzeugen Aha-Effekte, doch die Teilnehmer fallen danach rasch wieder in ihren alten Trott zurück. Ist das bei der Visionssuche anders?
Mindestens zwei Drittel der Teilnehmer verändern ihr Leben danach radikal. Das kann die Trennung vom Partner sein, die Veränderung der beruflichen Situation oder ein Wechsel des Wohnorts, der Lebensweise. Oft tangiert die Veränderung alle Lebensbereiche. Das hat damit zu tun, dass diese über Jahrhunderte tradierten Rituale uns in Situationen bringen, in denen unser Ich keine Kontrolle mehr hat, und wir direkt konfrontiert sind mit unserer Abhängigkeit und Sterblichkeit. Es ist bekannt, dass Menschen, die dem Tod ins Auge geblickt haben, danach anders leben – mit mehr Klarheit und weniger Angst.

Warum ist das so?
Wenn ich das Sterben akzeptiere, erhalte ich Zugang zu einer Form von Leben und Glück, die grösser ist als mein Ich. So sehr wir den Tod fürchten, er klopft bei jedem an die Tür, ob wir es wollen oder nicht. Das ist eine bestürzende Erkenntnis, aber wer sich dieser existenziellen Hoffnungslosigkeit stellt, kann dem Sterbeprozess ungleich mehr Lebendigkeit abgewinnen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob oder wann wir sterben, sondern wie viel ungelebtes Leben dann noch übrig bleibt. Ich sehe es als meine Hauptaufgabe, wenn Sie wollen: als meine Berufung, ungelebtes Leben möglich zu machen, diesen spirituellen Prozess zu unterstützen – nicht als Guru, sondern als spiritueller Nomade. Rituale sind für mich nicht deshalb wichtig, weil sie uns Halt gäben, sondern weil sie uns im Gegenteil den Halt nehmen, uns erschüttern und zur Offenheit führen, damit Lebendigkeit durchkommen kann. Sie helfen uns, heimisch zu werden in der Unsicherheit und uns behütet zu fühlen in unserer Verwundbarkeit. Dieser Prozess ist nicht nur für Individuen lohnenswert, sondern auch für Teams und ganze Organisationen. Auch in der Wirtschaft sind die Zeiten vorbei, in denen man die Dinge im Griff haben kann.

Was bedeutet all dies für die Suche nach der eigenen Berufung?
Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass die Berufung darin besteht, seine Talente zu leben und sich zu verwirklichen. Ich fürchte, so einfach ist das nicht. Die Berufung liegt oft nicht dort, wo man sie sich wünscht. Was uns in unserer Entwicklung behindert, ist unser Ich, unsere Vorstellung von uns selber. Meistens liegt der Schlüssel zur Berufung bei dem, was wir uns nicht eingestehen wollen. Es geht nicht primär darum, dass wir besser oder mehr werden, sondern darum, dass wir weniger werden, damit sich mehr Leben in uns ausbreiten kann. Die Berufung wurzelt nicht in unserem Ich, sondern in jenem anderen Teil, für den wir meistens kein Sensorium haben. Er zeigt sich uns in der Tragödie, in der Krise, im Unfall, in Todesnähe. Dann erhalten wir eine Ahnung von einer Kraft, die grösser ist als wir. Wir können sie nicht managen, aber uns auf sie einstimmen und uns durch sie verändern lassen. Dann trägt sie uns weiter als wir uns vorstellen können.


3. Oktober 2015