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«Wir leben so, dass wir später nichts bereuen»

Aufgewachsen ist Martina Zürcher im Berner Seeland, zuhause fühlt sie sich auf der ganzen Welt. Seit sie Job und Wohnung gekündigt hat, lebt und arbeitet die 39-Jährige mit ihrem Partner Dylan Wickrama im VW-Bus. In den nächsten Wochen machen die beiden Halt in der Schweiz, um zu erzählen, warum es sich lohnt, wenig zu besitzen und viel Zeit zu haben.

Interview: Mathias Morgenthaler  Foto: zvg


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Frau Zürcher, warum haben Sie vor vier Jahren Job und Wohnung gekündigt und sich entschlossen, in einem VW-Bus zu leben und ortsunabhängig zu arbeiten?
MARTINA ZÜRCHER: Immer dann, wenn ich in meinem Leben auf mein Herz gehört habe, bin ich gut gefahren. Bewarb ich mich auf ausgeschriebene Stellen, kam ich nicht zum Zug, versuchte ich mein Glück intuitiv mit Blindbewerbungen, klappte es. So arbeitete ich als Floristin nach Abschluss der Ausbildung für neun Monate in den USA, so bekam ich später meinen Traumjob beim Radio und so wurde ich schliesslich Reisejournalistin. Ich bekam zufällig im Flughafen das Magazin Transhelvetica in die Hände, las es während des Flugs mit wachsender Begeisterung, schrieb den Herausgeber an, wurde Praktikantin, Redaktorin und schliesslich Co-Chefredaktorin. Ich wusste deshalb: Wenn etwas ruft, muss ich dieser Stimme folgen.
 
Wer oder was hat denn gerufen vor vier Jahren?
Meine Entscheidung, drei Zimmer gegen vier Räder einzutauschen, hat eine Vorgeschichte. Ich absolvierte während des Journalismus-Studiums ein Auslandsemester in Indien und lernte dort Dylan Wickrama kennen. Er hatte im Kanton Glarus sechs Jahre lang eine Autowerkstatt geführt, war aber gerade auf Weltreise mit seinem Motorrad, als wir uns 2011 begegneten. Drei Jahre später kehrte er in die Schweiz zurück und wir zogen zusammen. Die Geschichten, die er unterwegs erlebt hatte, waren einfach zu gut, um nicht weitererzählt und aufgeschrieben zu werden. Ich hatte seit jungen Jahren davon geträumt, ein Buch zu schreiben, also nahm ich mir eine halbjährige Auszeit und schrieb Dylans Erzählungen nieder; wie er in Panama ans Ende der Strasse gelangt ist und sich ein Floss gebaut hat, das durch den Motor des Motorrads angetrieben wurde. Sechs Wochen war er so im Pazifik unterwegs, trotzte Stürmen und ging schliesslich wegen starker Strömungen auf dem Meer verloren. Er fand den Weg zurück an Land nur dank Delfinen.
 
Diese Geschichte brachten Sie unter die Leute?
Wir reisten durch Europa, um das Buch bekannt zu machen und Vorträge zu halten. Dylan stammt aus einfachsten Verhältnissen in Sri Lanka, sein Vater starb, als er sechsjährig war, er litt Hunger und musste früh der Mutter helfen, die vier Kinder durchzubringen. Seine erste Erfahrung war: Wer kein Geld hat, ist niemand. Entsprechend setzte er alles daran, in der Schweiz hart zu arbeiten, gut zu verdienen, sich Luxus leisten zu können. Eines Tages bot ihm ein Geschäftsmann einen Kredit an, damit er die Werkstatt vergrössern könne. In diesem Moment realisierte Dylan, wie unzufrieden er war in seinem Streben nach mehr. Er verkaufte die Werkstatt, nahm seine Reise in Angriff und realisierte: Unsere wichtigste Aufgabe ist, glücklich zu sein. Wenn wir Ballast abwerfen und ganz im Moment leben, können wir erstaunliche Dinge schaffen. So entschieden wir uns an einem Winterabend 2015, unsere Wohnung zu kündigen und im VW-Bus zu leben. So wurde die Welt zu unserem Zuhause.
 
Das klingt gut, aber inwiefern macht das glücklicher?
Wenn man nur noch ganz wenige Dinge besitzt, wird das Leben extrem übersichtlich. Entsprechend schärft sich der Blick für das Wesentliche. Wir lieben das, was wir tun. Letztes Jahr reisten wir auf dem Landweg in die Mongolei und passten unser Reisetempo der Landschaft und den Begegnungen an. Ein halbes Jahr lang keine fixen Termine zu haben, war ein grosses Geschenk an uns selber. Man sollte solche Dinge nicht auf später verschieben. Das Leben kann morgen vorbei sein. Vor knapp zehn Jahren starb meine Sandkasten-Freundin an Krebs, da wurde mir zum ersten Mal so richtig klar, dass wir nicht ewig Zeit haben. Vor knapp drei Jahren kam uns in Deutschland auf der Autobahn ein Falschfahrer entgegen. Wir waren unterwegs zu einem Vortrag und hatten grosses Glück, dass nur unser Bus Totalschaden erlitt, wir aber unversehrt überlebten. Bekannte warnten uns vor der Reise durch Tadschikistan, aber dort wurden wir überall zum Tee eingeladen und erhielten von Menschen, die fast nichts besitzen, kiloweise Aprikosen und Tomaten geschenkt. Im sicheren Deutschland hätten wir dagegen beinahe den Tod gefunden.
 
Heisst das für Sie, dass man nur im Moment leben und gar nicht fürs Alter vorsorgen sollte?
Wir konzentrieren uns schlicht auf die Dinge, die uns glücklich machen und mit denen wir etwas bewirken können. Das heisst nicht, dass wir anderen auf der Tasche liegen. Im letzten halben Jahr haben wir sehr viel gearbeitet, eine Vortragsreihe aufgebaut, einen Film produziert, ein weiteres Buch geschrieben, Reisen organisiert. Zudem habe ich vor 15 Jahren in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator mit drei Mitreisenden eine Suppenküche auf die Beine gestellt, um etwas gegen die Armut dort zu tun. Inzwischen ist daraus eine Tagesstätte geworden, in der täglich 175 Kinder verköstigt und betreut werden. Es geht uns nicht darum, nur noch Freizeit zu haben, sondern wir wollen so leben, dass wir später nichts bereuen. Dadurch, dass wir keine Miete bezahlen müssen, ist der finanzielle Druck geringer und wir können mit Jobs, die wir lieben, genug verdienen.
 
Ab Ende Oktober erzählen Sie in Schweizer Städten von Ihrem Leben als moderne Nomaden. Welche Reaktionen lösen Sie aus mit Ihrem Lebensstil?
Manchmal stehen am Ende des Abends gestandene Geschäftsmänner mit Tränen in den Augen vor uns, um sich zu bedanken. Ich glaube, wir erinnern viele Menschen an ihre Träume oder daran, was ihnen eigentlich wichtig wäre und was sie aus den Augen verloren haben. Hier in der Schweiz sind wir so sehr auf materiellen Reichtum fixiert – vielleicht erhoffen wir uns das Glück von den falschen Dingen. Deshalb heisst mein neues Buch auch schlicht «Einfach leben». Es lohnt sich, das Leben wieder einfacher, übersichtlicher zu machen. Und dann einfach zu tun, was einem wichtig ist.


14. September 2019