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«Ich war wie betrunken vom Glanz und Tempo am Paradeplatz»

Für Michael Treina konnte es nicht schnell genug gehen: Er studierte Medizin, Geografie und Wirtschaft, erarbeitete in seiner Doktorarbeit die Grundlagen für den Espace Mittelland und absolvierte eine Blitzkarriere bei Ernst & Young in Zürich. Mit 36 Jahren führte er als Vizedirektor das Leben eines Business-Nomaden – und war trotz allem Erfolg extrem unglücklich. Als dann auch noch eine Halbschwester auftauchte, von der er nichts gewusst hatte, wurde ihm klar, dass er sein Leben radikal ändern musste. Heute nimmt sich der 49-Jährige viel Zeit für seinen Sohn und für die Weitergabe seiner Erfahrungen.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.innosphere.ch oder michael.treina@innosphere.ch

Herr Treina, Sie haben Medizin, Geografie und Wirtschaft studiert, waren Hochseeskipper, Unternehmensberater, DJ und Lastwagenfahrer, praktizieren als Kinesiologe und bringen bald ein Kinderbuch heraus. Haben Sie so viele Talente oder so wenig Geduld?
MICHAEL TREINA: Vermutlich trifft beides zu. In der Schule fiel mir fast alles leicht. Ich mochte Zeichnen, Turnen und Rechnen, aber am liebsten waren mir die Sprachen. Mein Bubentraum war, Arzt zu werden. Später hätte mich auch die Kunstgewerbeschule sehr gereizt, aber da war meine Mutter strikt dagegen. Sie bestand darauf, dass ich etwas Rechtes lerne. Also nahm ich nach der Matur das Medizinstudium in Angriff. Das war damals eine prestigeträchtige Sache. Meine Mutter, die aus einfachen Verhältnissen stammt, war stolz auf ihren Sohn. Ich selber war mit falschen Vorstellungen eingestiegen und  enttäuscht, dass das Grundstudium hauptsächlich aus Anatomie, Physik, Chemie und Auswendiglernen bestand, als wäre der Mensch hauptsächlich eine Maschine.

Nach drei Jahren hatten Sie genug?
Ja, ich brach das Studium bald nach dem Grundstudium ab. Damit ging mein erster Lebensentwurf in die Brüche, ich schlitterte in eine grosse Krise und musste mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte, was ich im Leben eigentlich wollte. Heute verstehe ich, dass mich damals meine komplizierte Familiengeschichte einholte. Ich bin ohne Vater aufgewachsen und habe ihn mit 20 Jahren nur einmal kurz in Malaysia gesehen. Meine Mutter konnte sich zunächst auch nicht um mich kümmern, zehn Tage nach meiner Geburt kam ich in ein Säuglingsheim, als Einjähriger in eine Pflegefamilie, erst mit sieben Jahren kehrte ich zu meiner Mutter zurück. Ich kannte meine Wurzeln nicht richtig und blendete diese Frage aus.

Was waren die Folgen?
Ich litt sicher unter einem Defizit an elterlicher Wärme und Geborgenheit. So lernte ich früh, meine Gefühle auszublenden, mich anzupassen und mir durch überdurchschnittliche Leistungen Liebe oder zumindest Anerkennung zu verdienen. Das führte dazu, dass ich eine der besten Matura-Prüfungen meines Jahrgangs ablegte und später ein richtig guter Unternehmensberater wurde. Ich machte blitzartig Karriere in diesem Business, weil ich sehr schnell die Bedürfnisse meines Gegenübers erkenne, die Situation rasch analysieren und Strategien entwickeln kann. Zudem war ich immer ein extrem wissbegieriger Mensch. Schon als kleines Kind zerlegte ich den Föhn und den Toaster meiner Mutter und versuchte die Geräte – leider nicht immer mit Erfolg - wieder zusammenzubauen.

Als Sie vor der Frage standen, was aus Ihnen werden sollte, halfen all diese Talente vermutlich wenig.
Ja, da sass ich ratlos in der Berufsberatung und hatte vor lauter Interessen und Möglichkeiten keine Ahnung, was aus mir werden soll. In dieser Zeit hätte ich mir sehr stark einen Vater gewünscht, an den ich mich hätte anlehnen oder gegen den ich hätte aufbegehren können. Ich schwankte schliesslich zwischen Landschaftsgärtner, Künstler und Jurist und nahm nach einem Praktikum als Landschaftsgärtner das Geografie-Studium in Angriff. Nach den drei Jahren Medizin empfand ich dieses Studium als recht locker, ich war so schnell durch damit, dass ich noch ein halbes Jahr warten musste, bis ich die Abschlussprüfung absolvieren durfte. Und daneben sammelte ich viel Lebenserfahrung: Ich war als Jugendarbeiter im Berner Jugendkulturzentrum Gaskessel tätig, jobbte als Taxi- und Lastwagenfahrer, legte als DJ auf, wurde Hochseeskipper, fuhr ein schweres Motorrad. Es waren die glücklichsten Jahre meines Lebens, wozu auch die Liebe ihren Teil beigetragen hat.

Was macht einer wie Sie mit einem Abschluss in Geografie in der Tasche?
(Lacht) Ich trat guter Dinge als Raumplaner in die Berner Verwaltung ein. Da traf ich auf sehr sympathische Leute, aber... wie soll ich sagen... mit meinem Ehrgeiz und meinem Hunger etwas zu bewegen war ich dort nicht glücklich. Oft wurden zudem die Ideen der Raumplaner «aus ökonomischen Gründen» abgelehnt, meist mit Verweis auf nachteilige Folgen für Wirtschaft und Arbeitsplätze. Aus Rache an den Ökonomen, die fast immer das letzte Wort hatten – oder vielleicht auch aus Faszination –, entschloss ich mich, noch Wirtschaft zu studieren. Weil zu jener Zeit die Berner Volkswirtschaftsdirektorin Elisabeth Zölch jemanden mit Raumplanungserfahrung suchte, der die Idee des Wirtschaftsraums Espace Mittelland wissenschaftlich ausarbeitete, konnte ich gleich eine Doktorarbeit in Angriff nehmen.

Auch da waren Sie im Schnellzug unterwegs.
Ja, ich eignete mir im Selbststudium das erforderliche Wirtschaftswissen an und durfte als Quereinsteiger ein Forschungsprojekt mit über zehn Leuten an den Universitäten Bern, Neuenburg und Freiburg und über einer halben Million Franken Forschungsetat leiten. Für mich war es ein unbezahlbares Karrieresprungbrett. Täglich traf ich mich mit Bankdirektoren, Politikern, Unternehmern, Beratern, um über Vor- und Nachteile der Clusterbildung in der regionalen Wirtschaftsentwicklung zu diskutieren. Ich zog nach drei Jahren Forschungsarbeit ein kritisches Fazit: Der Espace Mittelland hat als Wirtschaftsraum nicht den notwendigen Zusammenhalt und funktioniert höchstens, wenn Bern als sachte Moderatorin auftritt. Leider verhielten sich die Berner dann eher so, als wären die umliegenden Kantone Bittsteller. Das Projekt Espace Mittelland erlitt bei der Umsetzung bedauerlicherweise tatsächlich Schiffbruch.

Sie waren danach dennoch ein gefragter Mann?
Ja, ich erhielt viele Stellenangebote von namhaften Unternehmen und wechselte schliesslich an den Paradeplatz in Zürich zu Ernst & Young in die Unternehmensberatung. Die ersten Tage in Zürich war ich in meinem jugendlichen Übermut wie betrunken vom Glanz und Tempo, so viel Macht und Status waren da auf engstem Raum versammelt. Der Parkplatz des Direktors kostete mehr als meine Studentenbude in Bern. Ich gewöhnte mich aber rasch an die neuen Verhältnisse und legte mich fortan bis zu 16 Stunden pro Tag ins Zeug. Nach einem halben Jahr war ich unterschriftsberechtigt, nach anderthalb Jahren Vizedirektor. Ich bereiste als Business-Nomade Europa und wunderte mich selber, wie ich es in so kurzer Zeit vom Werkstudenten zum Jetsetter gebracht hatte.

Waren Sie glücklich?
Ich war in hoch spannende Projekte involviert, durfte hinter die Kulissen der mächtigen Wirtschaft blicken, bekam jede Menge Anerkennung, verdiente sehr viel Geld – und war nach zwei Jahren extrem unglücklich, am Rande einer Depression. Das Schlimmste war, dass ich zu dieser Zeit keine Erklärung hatte für meine Niedergeschlagenheit. Es standen doch alle Zeichen auf Erfolg.

Warum gerieten Sie in eine Krise?
Ich hatte mich innert kurzer Zeit vom kantonalen Raumplanungsangestellten in einen «Golden Boy» verwandelt, wie die Amerikaner damals die jungen, gut bezahlten Profiteure der globalen Wirtschaft nannten. Zu Beginn fand ich es extrem spannend, hinter die Kulissen der grossen Unternehmen zu sehen, Zugang zu haben zu den Mächtigen und Reichen. Ich wurde aber auch in hohem Masse mit Gier, Doppelmoral und Machtspielen konfrontiert. Meist ging es primär darum, Gewinne zu maximieren - mitunter zum Nachteil der Gesellschaft. Diese Erfahrungen haben mir sehr zu schaffen gemacht, und ich hatte zunehmend Mühe, mich für meine Arbeit zu motivieren.

Was hatten Sie denn erwartet?
Ich hatte meine Matura in einer Klosterschule absolviert und zuhause in einer einfachen Welt gelebt. Ich war recht naiv in diesen Karrieresog geraten, stieg dann aufgrund meiner Leistungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit in die Wirtschaftselite auf und merkte bald, dass ich gegen mir wichtige Werte verstossen musste, um mich dort zu behaupten. Wer es in der globalen Wirtschaftswelt weit nach oben schafft, kann schnell reich werden, er kann aber auch den Bezug zur normalen Welt verlieren und sozial vereinsamen. Man sagt nicht zufällig, dass die hohen Löhne eine Art Schmerzens- und Schweigegeld sind.

Wie schafften Sie den Ausstieg?
Als die Unternehmensberatung von Ernst & Young auf Druck der USA ausgegliedert wurde, sprang ich ab und gründete mit einem Arbeitskollegen eine eigene Unternehmensberatung. Das Geschäft florierte sofort und ich konnte als Sanierer und Strategieberater elegant in die nationale Unternehmenswelt wechseln. Ich war zeitweilig auch in Linien- und Führungsjobs, ohne das eigene Unternehmen aufzugeben. Parallel dazu gab ich Tanzunterricht, leitete Hochsee-Segeltouren, legte als DJ Musik auf in Berner Clubs und fing wieder an, Lastwagen zu fahren.

Warum taten Sie sich das mit dem Lastwagenfahren an? Sie hätten auch ohne diesen Job mehr als genug zu tun gehabt.
In meiner Studienzeit fuhr ich jahrelang Lastwagen. Ich habe mich immer sehr wohl gefühlt unter den Lastwagenfahrern. Es war ein guter Ausgleich zur akademischen Welt. Die Kollegen sind bodenständig und direkt, manchmal sagen sie dir ins Gesicht, du seist ein «Tubel», aber eine Viertelstunde später sitzt man gemeinsam bei einem Bier. Dieser schnörkellose Umgang in einer von Maschinen und «harten Männern» dominierten Welt fasziniert mich – vielleicht weil ich so anders bin und in meiner Familie der starke Mann fehlte. (Hält inne) Und dann, vor fünf Jahren, wurde das Thema Familie plötzlich akut in meinem Leben.

Wie das?
Eines Tages erhielt ich eine E-Mail von einer jungen Frau aus Malaysia, die mir mitteilte, sie sei meine Halbschwester. Dadurch brach eine alte Wunde wieder auf. Ich war ja ohne Vater aufgewachsen, hatte ihn nach der Matura mit Hilfe des Roten Kreuzes gefunden und in Kuala-Lumpur kurz getroffen. Da ich nicht in sein Lebenskonstrukt passte, stellte er mich dort als Kunststudenten aus Europa vor und antwortete später auf keinen meiner Briefe. Meine Halbschwester fand fünfundzwanzig Jahre später auf seinem Sterbebett einen dieser Briefe mit meiner Adresse und nahm Kontakt auf mit mir.

Was löste das in Ihnen aus?
Ich setzte mich wenige Wochen später mit meiner Frau ins Flugzeug. In Malaysia brachen dann alle Dämme. Der schnelle, kühle, strategisch gewiefte Denker hatte plötzlich nichts mehr im Griff. Ich kam völlig ins Schleudern, als ich mich plötzlich in einer grossen Sippe wiederfand. Gefühle von Familienzusammengehörigkeit und vergangenem Schmerz überwältigten mich. Mein Vater war ein berühmter Künstler gewesen mit einem guten Draht zum Königshaus und einer Schwäche für Frauen. Ich begriff nicht wirklich, was mit mir geschah, eines aber war mir absolut klar: Ich konnte nicht weiterfahren wie bisher. Diese persönliche Krise wirkte sich auch auf die Beziehung zu meiner Frau aus, die auf dieser schicksalshaften Reise schwanger wurde. Unsere Beziehung und mein bisheriges Leben erschienen mir plötzlich kühl und leer. Es blieb wirklich kein Stein auf dem anderen.

Wie fanden Sie wieder Halt?
Mir war klar, dass ich externe Hilfe brauchte – und zwar solche, die nicht auf intellektueller Ebene ansetzte. So suchte ich einen Kinesiologen auf, der sich nicht für meinen überentwickelten Intellekt interessierte, sondern meine unterentwickelten Emotionen befragte. Daneben praktizierte ich intensiv Zazen, eine Meditation der Stille. Es lag auf der Hand, dass ich mein Arbeitspensum reduzieren musste, um den grossen Fragen in meinem Leben mehr Raum zu geben. Ich wollte nicht bis zur Pensionierung wie ein Irrer durchs Leben rennen, auf der Flucht vor mir selber. Weil mir mein lebenserfahrener Kinesiologe in dieser Hinsicht ein Vorbild war, entschloss ich mich, selber eine Kinesiologie-Ausbildung in Angriff zu nehmen und mich beruflich nochmals zu verändern.

Wie sieht Ihr Alltag heute aus?
Ich bin in reduziertem Umfang im eigenen Beratungsunternehmen tätig, mache meine Ausbildung fertig und lerne viel über die Psyche. In meiner Praxis betreue ich Menschen, denen ich helfe, den eigenen Lebensweg und vor allem sich selber zu entdecken. Daneben unterrichte ich an der Hochschule als Strategieberater und fahre langsam meine vielen Nebenjobs herunter. Die Hälfte der Woche kümmere ich mich um meinen kleinen Sohn, da ich nun geschieden bin und unbedingt für ihn da sein will. Er soll nicht ohne Vater aufwachsen.

Was möchten Sie ihm mit auf den Weg geben?
(Lacht) Im Moment ist er wunschlos glücklich, wenn er neben mir Lastwagen fahren darf. Ich möchte ihm aber mit auf den Weg geben, dass es neben der intellektuell erfassbaren physischen Welt eine geistig-seelische Welt gibt, ohne die wir unsere Bestimmung nicht finden können. Ich habe dazu einen Fantasy-Roman geschrieben, der gerade in Druck geht und im September erscheint. Meine Kindheit und meine Erfahrung als Musterschüler in der glänzenden Welt des Materialismus lieferten den Stoff fürs Buch. Ich bin selber schmerzhaft ins Leere gelaufen und spürte am eigenen Leib, dass der materielle Erfolg das Herz nicht erfüllt. Ich glaube, es ist an der Zeit, die einseitige Dominanz des kartesianischen Weltbildes zu benennen und den Materialismus zu hinterfragen. Wenn es uns gelingt, die nicht-materielle Welt wieder zu integrieren, wird unser Leben reicher mit weniger Geld – und der überbordende Kapitalismus wird wieder verschwinden.

Hat sich Ihr Leben wieder beruhigt?
Vermutlich hat der Mangel an Selbstvertrauen und Geborgenheit dazu geführt, dass ich wie ein Besessener gearbeitet und den Erfolg gesucht habe. Dann lief das Business so gut, dass ich vor lauter Erfolg kaum mehr den Ausstieg fand. Erst durch die Krise fand ich näher zu mir und zu meiner Berufung, suchende Menschen zu begleiten und sie darin zu unterstützen, in ihre eigene Mitte zu kommen. Die Wogen haben sich noch nicht vollständig geglättet, ich sehe noch nicht ganz klar. Aber ich spüre, dass ich meiner Bestimmung in den letzten Jahren sehr viel näher gekommen bin.