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«Die Älteren werden nun von den Jungen lernen müssen»

Künstliche Intelligenz werde drastischere Auswirkungen haben, als sich die meisten heute vorstellten, sagt der Internetpionier – sie werde nicht nur die Arbeitswelt revolutionieren, sondern zu einem «Umbau der gesamten Zivilisation» führen. Im Interview sagt der 48-Jährige, dass es ihn erleichtern würde, wenn ChatGPT bald seine Bücher schreiben würde, und er verrät, warum sein Sohn im Alter von 18 Monaten ein iPhone bekommen hat.

Interview: Mathias Morgenthaler


Kontakt und weitere Informationen:
https://saschalobo.com/


*Sascha Lobo (48) ist als Autor, Strategieberater und Vortragsredner tätig. Er hat mehrere Bücher über die Digitalisierung verfasst, zuletzt 2019 «Realitätsschock». Im Herbst wird sein Buch «Die grosse Vertrauenskrise» erscheinen. Mit seiner Frau Jule, die er auf Twitter kennen lernte, betreibt er den Podcast «Feel the News». Das Paar lebt mit den zwei Söhnen in Berlin. Das Interview wurde am Rand der Konferenz «New Work Experience» in Hamburg geführt, wo Lobo einer der Hauptreferenten war.

Herr Lobo, werden Chatbots wie ChatGPT die menschliche Arbeitskraft bald ersetzen?
SASCHA LOBO: Die Lancierung der Beta-Version von ChatGPT 3.5 am 30. November 2022 war sozusagen der iPhone-Moment der Künstlichen Intelligenz. Kurz bevor 2007 das erste iPhone vorgestellt wurde, lehnte sich der damalige Nokia-Chef noch mit der Aussage aus dem Fenster, man sei unangefochten Weltmarktführer und habe mindestens ein Jahr Vorsprung auf alle anderen. Dann stellte Apple ein Gerät vor, das unser Alltagsverhalten ebenso radikal verändert hat wie die Geschäftsmodelle aller Unternehmen.

Textbasierte Chatbots wie ChatGPT haben in Ihren Augen ein ähnliches Transformationspotenzial?
Wer ChatGPT schon genutzt hat, der erahnt, dass sich dadurch viele Dinge grundlegend verändern werden. Noch ist es kaum möglich, die konkreten Folgen zu umreissen. Aber es wäre fatal, jetzt am Bestehenden festzuhalten in der Hoffnung, das Ganze sei nur ein Hype. Es ist zweifellos auch ein Hype und lange nicht jede Prognose wird sich als wahr erweisen, aber die Auswirkungen werden drastischer sein, als sich die meisten heute vorstellen. Ich rechne mit einem Umbau nicht nur der Arbeitswelt, sondern der gesamten Zivilisation – einer Zäsur also, die sich in der Dimension mit dem Beginn der Industrialisierung vergleichen lässt.

Was raten Sie den Führungskräften der Unternehmen, die Sie beraten?
Ich empfehle ihnen eindringlich, alles zu lesen, alles anzuschauen und alles auszuprobieren, was mit Künstlicher Intelligenz zu tun hat. Seit Jahrzehnten sprechen Experten von lebenslangem Lernen – nun wird uns konkret vor Augen geführt, was das bedeutet. Das Wissen vom Januar ist heute schon wieder veraltet. Vor dem letzten Update im März hat ChatGPT quasi aus Versehen 125 zusätzliche Sprachen gelernt. Entscheidend ist, sich nicht an dem festzuhalten, was man mag und kennt, sondern ein Gespür zu entwickeln für kommende KI-Transformationen; zu erahnen, wohin die Reise gehen könnte.

Sind die über 50-jährigen meist männlichen Führungskräfte, welche an den Hebeln der Macht sitzen, dazu in der Lage?
Sie tun sich damit im Normalfall schwerer als die Millennials, die etwa bei Social Media sehr rasch merken, wo die Musik spielt. Eine der grössten Herausforderungen für ältere Menschen in Führungspositionen wird sein, veraltete Gewissheiten über Bord zu werfen und Neues anzunehmen. Die Älteren werden vermehrt von den ganz Jungen lernen müssen. Können ist heute mehr wert als Wissen; eine 20-Jährige kann sich unter Umständen in 30 Minuten auf TikTok mehr unmittelbar nützliches Know-how aneignen als der erfahrenere Kollege in Studium und 30 Berufsjahren.

Sie haben immer sehr früh auf neue Technologien gesetzt – wo nutzen Sie KI in Ihrem Alltag?
Ich schreibe einige Texte mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz – Essays für Zeitschriften zum Beispiel. Für mein Buch «Die grosse Vertrauenskrise» habe ich einige Kapitel von KI strukturieren lassen. Das Schreiben habe ich noch nicht an die KI delegiert, weil mein Stil bisher noch nicht gut genug abbildbar ist. Aber die KI kann schon Überschriften verfassen, die nach Sascha Lobo klingen. Es ist also gut möglich, dass ich das Schreiben bis in einem halben Jahr weitgehend einem KI-Programm überlassen kann.

Bloggen, Bücher und Essays schreiben, Referate halten – das ist doch Ihr Kerngeschäft. Was, wenn die KI das besser macht als Sascha Lobo?
Man kann mir sicherlich vieles vorwerfen, aber nicht, dass ich mich nicht rechtzeitig um eine Art von Marke gekümmert hätte. Auch wenn die KI die Inhalte besser auf den Punkt bringen sollte als ich, so braucht es noch jemanden, der seinen Namen zur Verfügung stellt und das verkörpert. Für mich ist es eher eine Erleichterung, wenn mir jemand das Schreiben abnimmt.

Aber wenn man sich wie Sie als Vordenker und pointierter Analyst versteht, ist es doch eine Kränkung, wenn man da austauschbar wird.
Nein, ich bin mir seit langem bewusst, dass es am Ende mehr auf die Inszenierung ankommt als auf den konkreten Output, und diese Inszenierung besteht aus ganz vielen Mosaiksteinchen. Es wird am Ende noch immer mein Erscheinungsbild brauchen, damit die Inhalte eine Wirkung erzielen. Zum Glück habe ich eine wesentlich schönere Frisur als ChatGPT.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen von Politik und Wirtschaft auf die Lancierung von ChatGPT?
Es gab ein paar panische Reaktionen, aber insgesamt bin ich positiv überrascht, wie Deutschland und die Schweiz reagiert haben. Es dominiert insgesamt eine offensiv-umarmende Haltung, die den Fokus auf die Chancen legt. Die Schweiz ist relativ weit vorne, was die Erforschung und den Einsatz von KI angeht.

Sie fürchten nicht, dass menschliche Arbeitsplätze durch Maschinen und Algorithmen ersetzt werden?
Automatisierung bedeutet nicht, dass die menschliche Arbeitskraft entbehrlich wird – das sehen wir seit den 1960er-Jahren. Zwar prognostiziert die jüngste Goldman-Sachs-Studie, dass weltweit 300 Millionen Arbeitskräfte ersetzt werden könnten, aber ich habe da meine Zweifel. Arbeitende können in einer Vielzahl von Tätigkeiten produktiver werden dank KI. Vergessen wir nicht, dass wir auf einen grossen Fach- und Arbeitskräftemangel zusteuern – so schnell wird uns die Arbeit nicht ausgehen.

Aber die Idee, eine solide Erstausbildung zu absolvieren und dann beruflich abgesichert zu sein, sollten wir aufgeben?
Ja, das alte Aufstiegsversprechen ist in den westlichen Industrieländern seit geraumer Zeit kaputt. Wer aber ständig dazulernen und KI clever nutzen will, dem eröffnen sich im Arbeitsmarkt sehr gute Chancen. Eine MIT-Studie vom März hat nachgewiesen, dass die Produktivitätssteigerung dank ChatGPT bei Anfängerinnen ohne viel Berufserfahrung besonders hoch ausfällt. Das zeigt zwei Dinge: Erfahrung verliert an Wert. Und: Unsere Modelle der Beförderung und Entlöhnung werden von KI gerade stark durcheinanderwirbelt. Die Löhne von Menschen, die gut ausgebildet sind und viel Erfahrung haben, werden stark unter Druck kommen.

Stimmt es, dass Ihr älterer Sohn schon vor seinem zweiten Geburtstag ein Smartphone bekam?
Ja, das ist so – und natürlich werde ich dafür oft angefeindet, weil sich die meisten Leute auf ihr Bauchgefühl stützen statt auf Evidenz. Bei massvoller Nutzung überwiegen die Vorteile. Dass ich meinem Sohn ein Smartphone geschenkt habe, als er 18 Monate alt war, hatte zwei Effekte: zum einen ist er nicht mehr mit dem iPhone meiner Frau oder meinem Gerät zugange; zum anderen lernt er, bestimmte Inhalte für eine limitierte Zeit zu nutzen.

Was heisst das konkret?
Wir haben das Smartphone so eingestellt, dass er nur bestimmte Inhalte auf YouTube für Kinder und Netflix anschauen kann. Mein Sohn liebt besonders Aufnahmen von Baggern und von Feuerwehrsirenen, dazu «Mascha und der Bär» und die Teletubbies. Ich will gar nicht sagen, dass ich das im Einzelnen grossartig finde, aber wir lassen ihn explorativ damit umgehen, dass er für sich herausfinden kann, was er mag in diesem eng definierten Spektrum.

Was wünschen Sie sich für die Bildung Ihrer Kinder?
Für mich ist klar, dass Kinder früh mit Technologie in Berührung kommen sollten. In China ist schon 2018 in 10‘000 Schulklassen das Fach „Künstliche Intelligenz“ eingeführt worden. Unsere Bildung muss sich radikal digitalisieren. Das, was nachweislich am besten funktioniert beim Lernen, nämlich ein informierter Dialog, kann mit Künstlicher Intelligenz sehr gut abgebildet werden. Ich glaube, wir stehen kurz davor, dass dank adaptiven Konzepten jedes Kind von einem KI-Tutor individuell mit Bildung versorgt werden kann.

Was wünschen Sie Ihren Kindern für Ihren Berufsweg?
Ich kann das nur von mir extrapolieren. Ich stürze mich sehr gerne kopfüber in neue Gebiete, um mir neue Zusammenhänge zu erschliessen. Mein Gefühl ist, dass diese ausgeprägte Neugier mir hilft, immer wieder dazuzulernen. Wenn man das für sich entdeckt hat, muss man sich keine grosse Sorgen über die Zukunft machen. Ich versuche sie also zu ermutigen, ihre Neugier zu kultivieren und irgendwann einen Teil dieser Neugier in Richtung einer beruflichen Tätigkeit zu kanalisieren.


17. Juli 2023