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Der Unternehmer, der die Jacke von Papa Moll strickte

Urs Landis betreibt im alten Dienstgebäude des Bahnhofs Turgi eine eigene Strickerei. Dort produziert er Pullover, Mützen, Schals – und manchmal eine Sonderanfertigung fürs Opernhaus. Den ersten Auftrag gab er sich selber. Und die Anschaffung der ersten eigenen Strickmaschine war so abenteuerlich, dass man versteht, warum andere Landis als Spinner bezeichnen und er das durchaus als Kompliment sieht.

Text: Mathias Morgenthaler
Foto: Sabina Bobst


Kontakt und weitere Informationen:
www.herrurs.ch


Wenn man im aargauischen Turgi aus dem Zug steigt, fällt einem das Schild am alten Dienstgebäude sofort auf: «Herr Urs. Strickwaren hergestellt in der Schweiz» steht da schwarz auf weiss. Das wirkt seltsam aus der Zeit gefallen. Hat da jemand vor 50 Jahren seine Strickerei aufgeben müssen und vergessen, das Schild abzumontieren?
 
Weit gefehlt! Drinnen im Gebäude surren die Strickmaschinen, werden wie von Zauberhand vollautomatisch Pullover aus Merinowolle für die Schweizer Firma Rotauf gefertigt. Und dieser Herr Urs ist kein in die Jahre gekommener Nostalgiker, sondern ein 36-jähriger Jungunternehmer, der seit Monaten mehr Aufträge erhält, als er ausführen kann. Dass Stricker für viele nicht gerade der Traum- und Trendberuf ist, stört Urs Landis nicht. «Ich bin schon in jungen Jahren oft als Spinner bezeichnet worden – es kümmert mich deshalb nicht gross, was andere denken», sagt Urs Landis gleich zu Beginn des Gesprächs.
 
Er versteht Dinge, indem er sie ausprobiert
Tatsächlich hat Landis einen ungewöhnlichen Lebenslauf: Er lernte Schriften- und Reklamegestalter, besass schon als Teenager eine Siebdruckerei, jobbte später als Gefahrengut-Lastwagenchauffeur und Fotograf. Als er für einen Skate-Bekleidungs-Laden T-Shirts fotografierte, wurde ihm bewusst, welchen Weg diese Markenkleider zurückgelegt hatten bis zum Abverkauf: Billigproduktion in Asien, dann im Frachtschiff oder Flugzeug in die USA, anschliessend neu verpackt nach Europa ins Zentrallager, von dort aus erneut neu verpackt in die Schweizer Firmenzentrale und am Ende in einen Laden, wo ein T-Shirt mit Waren- und Produktionswert von drei Franken für 50 Franken verkauft wird. «Es müsste doch möglich sein, für 50 Franken ein T-Shirt in der Schweiz zu produzieren», dachte sich Landis, und weil er Dinge gerne versteht, indem er sie ausprobiert, schrieb er sich an der Schweizer Textilfachschule als Student ein – und war der Einzige, der sich auf die Fachrichtung Stricken spezialisierte.
 
Die erste Strickmaschine wog 1,5 Tonnen
Die Arbeit an der Flachstrickmaschine, die vollautomatisch Mützen oder Schals herstellt, faszinierte den Studenten so sehr, dass er viele freie Wochenenden opferte, um neben Brotjob und Studium besser stricken zu lernen. Schliesslich, als ihm das andauernde Pendeln zwischen Zuhause und Schule zu mühsam wurde, fasste er sich ein Herz, rief beim deutschen
Maschinenhersteller Stoll an und fragte, ob er eine Occasion-Strickmaschine kaufen könne. Es brauchte einiges an Überzeugungskraft, aber schliesslich lieferte das Unternehmen dem Nachwuchsstricker für 12'000 Euro eine 1,5 Tonnen schwere Maschine aus den 90er-Jahren inklusive Software und Landis brachte das Gerät im alten Gewächshaus der Grosseltern unter, wo er jederzeit üben und dazulernen konnte.
«Die ersten zwei Monate habe ich sehr viel Abfall produziert, weil die Maschine nicht sauber eingestellt war und ich zu wenig Erfahrung mit Programmieren hatte», erinnert sich Landis. Doch allmählich wurden die selber hergestellten Produkte besser, und in dieser Zeit kam es Landis zugute, dass er hauptberuflich Einkäufer beim Berufskleider-Spezialisten Spilag war. So kam der Moment, als Spilag-Einkäufer Urs Landis dem freiberuflichen Stricker Urs Landis eine Mail schickte mit der Anfrage, ob er 1000 Mützen produzieren könnte; und die Offerte, welche Landis an Landis zurückschickte, überzeugte nicht nur ihn, sondern auch dessen Chef und den Kunden. «Das war der Startschuss zu meiner Selbstständigkeit», sagt der 36-Jährige.
 
Inzwischen muss sich Landis die Aufträge längst nicht mehr selber zuschicken. Auf vier Maschinen strickt der Unternehmer Pullover, Mützen und Schals für Schweizer Outdoor-Unternehmen wie Rotauf, aber auch für die Klimagrosseltern, das lokale Gewerbe, Designerinnen, kleine Labels oder Privatpersonen, die ein Lieblingsstück nachgestrickt haben möchten. Sogar die weltweit agierende Schuhfirma On hat schon angeklopft für eine gemeinsame Entwicklung, aber Landis sah keinen Sinn in einer Zusammenarbeit, weil sie ihn zu sehr eingeschränkt hätte in seiner Flexibilität und er fürchtete, die Grossproduktion würde dann nach Asien verlegt. Trotz solcher Absagen kann Landis heute nicht nur selber gut vom Stricken leben, sondern er beschäftigt je nach Auftragslage Freelancer und legt Geld zurück für modernere Maschinen.
 
Wenn das Zürcher Opernhaus anklopft
Eine Spezialität von Landis ist die individuelle Entwicklung und rasche Fertigung von Kleinaufträgen. Das schätzen auch Institutionen wie das Zürcher Opernhaus oder das Schauspielhaus Zürich, die immer mal wieder bei Landis anklopfen, wenn sie im eigenen Kostümfundus nicht fündig geworden sind und eine massgestrickte Spezialanfertigung brauchen. Auch die Strickjacke, die Papa Moll im Film trägt, hat Urs Landis auf einer seiner Maschinen produziert.
 
Für Privatkunden sind die Produkte nicht ganz billig:  Mützen gibt’s für 50 bis 70 Franken, Schals kosten zwischen 120 und 180 Franken und Pullover zwischen 200 und 300 Franken. «Es gibt immer mehr Leute, die bereit sind, für gute Qualität aus lokaler Produktion solche Preise zu bezahlten», sagt Landis, «gerade bei den Jüngeren wächst das Bewusstsein für lokale Produktion». Eines der nächsten Ziele des Strickers ist, vermehrt Garn aus der Wollproduktion von Schweizer Bauern verarbeiten zu können. «Wir haben viel zu lange die heimische Wolle weggeworfen, weil die Mengen so klein sind. Warum sollten wir nicht in Zukunft aus den 10 Kilo Wolle, die ein Schafbauer gewinnt, ein paar Pullover produzieren, die von A-Z ,swiss made’ sind?»
 
Mit Blick auf seinen Werdegang klingt das durchaus machbar. Urs Landis hat schon verrücktere Dinge geschafft.


19. März 2022