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«Da schwor ich mir, nie mehr in meinem Leben arm zu sein»

Als Varathan mit 19 Jahren in die Schweiz kam, hatte er schlechte Karten: Er sprach kein Wort Deutsch und brachte als Sohn eines Reisbauers in Sri Lanka keine nützlichen Berufskenntnisse mit. Das hinderte ihn nicht daran, sich buchstäblich vom Tellerwäscher zum preisgekrönten Küchenchef und Unternehmer emporzuarbeiten. Mehr als eine Woche Ferien pro Jahr hat er sich dabei nicht gegönnt.

Interview: Mathias Morgenthaler    Fotos: René Lang



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Varathan mit seiner Frau Tharanie. Am 25. November 2014 eröffnen die beiden «Varathans Restaurant Lounge» in der Überbauung Buchenhof in Sursee.


Herr Varatharajah, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Flucht in die Schweiz?

NITHTHIYABHAVANANTHAM VARATHARAJAH: Nennen Sie mich einfach Varathan, das ist einfacher. Ich bin sehr dankbar, heute in der Schweiz ein gutes Leben führen zu können, aber an die lebensgefährliche Flucht infolge der Kriegswirren erinnere ich mich ungern zurück. Von Colombo aus gelangten wir mit einem Schlepper nach Singapur und von dort aus mit vier Flügen nach Sofia. Ich war 19-jährig und war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie geflogen oder Zug gefahren. Wir wurden wie Vieh in Camions verladen, wo wir fast erstickten. Mehrmals mussten wir uns im Wald verstecken. Es dauerte über zwei Monate, bis ich in der Schweiz ankam. In der Aufnahmestelle eines Asylantenheims sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Dusche.

Wie haben Sie Arbeit gefunden?

Der Anfang war schwierig, denn für mich war alles neu: Die Sprache, die Hautfarbe, das Essen, der Verkehr, die Mentalität. Ein Landsmann verhalf mir nach ein paar Monaten zu einer Stelle im Kurhotel Restaurant Eichberg in Seengen/AG. Ich konnte zu dieser Zeit knapp «Guten Tag» sagen, aber es kam bei diesem Job auch nicht so sehr aufs Reden an. Ich war Mädchen für alles, Tellerwäscher, WC-Reiniger, Hilfskraft. In meiner Heimat hätte ein Mann niemals solche Arbeiten übernommen, deshalb musste ich mich ein wenig überwinden. Bald war es für mich aber eine Traumstelle, weil der Betrieb sehr familiär geführt wurde und ich immer mehr Aufgaben übernehmen konnte.

Wie gelang Ihnen der Aufstieg zum preisgekrönten Küchenchef?

Eines Tages fragte mich mein Chef, ob ich auch bei der Essenszubereitung helfen möchte statt immer nur abzuwaschen und zu putzen. Als ich das erste Mal Gemüse rüsten und ein Frühstück zubereiten durfte, war ich der glücklichste Mensch der Welt. Ich beobachtete die anderen Angestellten sehr genau und wollte immer dazulernen. Nach der Arbeit schaute ich Nachrichten, um besser deutsch zu lernen. So durfte ich immer neue Aufgaben übernehmen, den Salat, die Zubereitung, das Dessert, schliesslich auch warme Küche. Eines Tages wurde ich Küchenchef und gewann bald erste Preise.

In der gleichen Zeit kam Ihre Frau in die Schweiz und wurde als Hilfskraft im Kurhotel Eichberg eingestellt.

Meine Eltern hatten zum Glück bei der Auswahl ein gutes Händchen und ich genoss es sehr, mit meiner Frau im gleichen Betrieb zu arbeiten und erstmals eine eigene Wohnung zu haben. Wir träumten beide davon, einmal ein eigenes Restaurant zu übernehmen, brauchten aber Geduld. 2005, 13 Jahre nach meinem Anfang als Tellerwäscher, erfüllte sich der Traum mit der Übernahme des Gasthofs St. Wendelin in Wauwil/LU. Wir kreierten eine eigene Karte mit der kompletten Schweizer Küche, aber auch einem breiten Angebot aus asiatischen Speisen. Die asiatische Küche lief von Anfang an noch besser als die traditionellen Schweizer Gerichte, überhaupt wurden wir sehr gut aufgenommen. An guten Tagen waren mittags und abends bis zu 200 Gäste im Restaurant.

Das heisst: Sie und Ihre Frau waren pausenlos im Einsatz?

Ja. Wir hatten zehn Festangestellte und manchmal vier Hilfskräfte. Ich war im Hintergrund tätig, kümmerte mich um Küche und Geschäftsführung, meine Frau um den Service und die Gästebetreuung. Man darf nicht bequem sein in diesem Job. Meine Frau und ich arbeiteten beide 16 bis 18 Stunden pro Tag, sechs Tage pro Woche. Montag war immer Ruhetag, aber da wir im gleichen Gebäude wohnten, ging ich natürlich trotzdem ans Telefon. Und der Einkauf will ja auch geplant sein. Ich bin stolz darauf, dass meine Frau und ich nie krank waren, nie gefehlt haben in den gut acht Jahren – ausser an einem Samstag, als ein Freund uns in die Benissimo-Sendung nach Zürich einlud. Auch Ferien haben wir praktisch nie gemacht, insgesamt acht Wochen in den achteinhalb Jahren.

Wie haben Sie dieses immense Pensum durchgestanden?

Meine Familie galt in Sri Lanka als wohlhabend. Als ich 13-jährig war, verloren wir aber durch eine Naturkatastrophe und Missernten unser Vermögen und mussten bei meinem Onkel ein Darlehen aufnehmen. Später verlangte dieser das Geld in betrunkenem Zustand zurück. Ich erinnere mich gut an diese Demütigung. Damals schwor ich mir, nie mehr in meinem Leben arm zu sein und alles für den Erfolg zu tun. In der Schweiz begann ich ganz unten. Ich hatte kein Geld, keine Ausbildung, keine Sprache. Niemand hätte damals geglaubt, dass ich Küchenchef und Geschäftsführer werden kann, man hätte mich ausgelacht. Es war und ist ein grosser Antrieb für mich, es allen zu zeigen und das Gegenteil zu beweisen. Damit will ich auch andere motivieren. Wenn einer wie ich es geschafft hat – wer sollte es dann nicht schaffen können?

Sie haben Ende 2013 das Gasthaus St. Wendelin verlassen und eröffnen am 25. November ein nach Ihnen benanntes Restaurant in Sursee. Haben Sie in dieser Übergangszeit die verpassten Ferien nachgeholt?

Anfang Jahr haben wir uns eine kleine Auszeit gegönnt, dann habe ich einen Job bei Transgourmet angetreten. Ich stehe jeden Morgen um 3 Uhr auf, Arbeitsbeginn ist um 4:15 Uhr in Neuendorf. Wir beliefern die Gastronomie mit Waren, 5,5 Tonnen jeden Tag. Ich war noch nie so fit wie heute, bei 1200 Treppenstufen pro Tag brauche ich kein Fitnesscenter. Es ist interessant, eine ganz andere Seite kennenzulernen. Niemand beachtet die Leute, welche die Ware anliefern – ich sehe aber viel und sammle Eindrücke und Ideen. Ich führe eine Art Tagebuch, um mich besser erinnern zu können. Zudem erinnert es mich an meine Anfänge. Man hält mich oft für eine Hilfskraft.

Und weil Sie mitten in der Nacht beginnen, haben Sie ab 15 Uhr Zeit für Frau und Kinder.

Ich stehe danach oft in der Küche und mache Pouletknusperli bis 22 Uhr. Ich habe vor acht Jahren ein eigenes Rezept entwickelt, verwende Pouletbrust statt Fleischabfälle und mache einen unverwechselbaren Tempura-Mantel mit Reismehl. Nach langer Überzeugungsarbeit kam ich damit ins Sortiment von Transgourmet. Und dann ist da noch die Geschichte mit den Wauwiler Champignons. Ich suchte nach einem raffinierten Rezept für das Einlegen von Pilzen. Letzten Winter experimentierte ich mit einer Mischung aus Essig, Süssmost, Curry, Chilli und Orangenpfeffer. Ich schickte Coop ein paar Muster, und nun kommen die eingelegten Wauwiler-Champignons in der Zentralschweiz bei Coop in die Regale! Ich liebe solche unternehmerischen Projekte – im Liegestuhl sitzen und die Füsse hochlagern, das ist nichts für mich.

Sie haben viel erreicht – bleiben da noch Träume für die nächsten 20 Jahre?

Zunächst freue ich mich sehr auf die Eröffnung des Restaurants in Sursee – da die ganze Überbauung neu ist, konnte ich bei der Gestaltung des Restaurants meine Wünsche einbringen und der Inhaber lässt mir auch beim Angebot freie Hand. Mittelfristig wäre es mein Traum, eine Fast-Food-Kette zu lancieren – nicht mit fettigem, ungesundem Essen, sondern mit bekömmlichem, schweizerisch-asiatischem Angebot. Das Essen müsste preislich attraktiv und kinderfreundlich sein. Im Kopf habe ich schon vieles durchgespielt. Aber alles im Leben braucht seine Zeit. Meistens hat es bei mir rund fünf Jahre gebraucht, bis ich eine neue Idee realisieren konnte.


18. Oktober 2014