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«Gewissheit gibt es nur im Scheitern»

Werner Kieser hatte keinen Masterplan und keine betriebswirtschaftliche Ausbildung, als er vor 50 Jahren den Grundstein für Kieser Training legte. Was ihn vorantrieb, waren seine Neugier und seine Enttäuschungen. «Ich verdanke das Meiste meinen Fehlern», sagt der 77-Jährige, der als Kind Schwingerkönig werden wollte.

Interview: Mathias Morgenthaler   Foto: zvg



Kontakt und weitere Informationen:
www.kieser-training.ch oder Twitter: @st1856


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Der junge Werner Kieser beim Boxen.

Herr Kieser, 50 Jahre nach der Gründung haben Sie Kieser Training auf Anfang Jahr verkauft. Wie schwer fällt das Loslassen?
WERNER KIESER: Im dritten Anlauf fällt es etwas leichter als beim ersten Versuch. Es ist nicht einfach, das eigene Lebenswerk in fremde Hände zu geben. Deshalb war schon die Suche nach einem Geschäftsführer schwierig. Zwei sind gekommen und mussten wieder gehen. Michael Antonopoulos, der per Anfang Jahr Miteigentümer wurde, kennt die Gruppe seit zwölf Jahren. Er war Finanzchef und sprang vor sieben Jahren ein, als der CEO gehen musste. Aus dem Provisorium wurde eine dauerhafte Lösung. Er kennt und versteht das Produkt und weiss, dass das Erfolgsgeheimnis von Kieser darin besteht, viele unsinnige Trends nicht mitzumachen. Wir können hier keine Akademiker brauchen, die sich mit den neusten Management-Marotten verwirklichen wollen.

Sie hatten Tischler gelernt und als Eisenleger auf dem Bau gearbeitet, bevor Sie 1966 das erste Studio eröffneten. Hätten Sie sich nicht eine solide betriebswirtschaftliche Ausbildung gewünscht?
Nein, ich habe aus meinen Fehlern gelernt – das ist die beste Ausbildung überhaupt. Eigentlich habe ich fast nur Fehler gemacht, aber da ich mutig und neugierig war, haben mich diese Fehler weitergebracht. Machen wir uns doch nichts vor: Die meisten Entscheidungen in Unternehmen sind zufällig richtig oder zufällig falsch. Ich weiss bis heute nicht genau, warum ich Erfolg hatte. Aber ich bin mir bewusst, wie viel ich meinen Fehlern verdanke. Gewissheit gibt es nur im Scheitern, das hat schon Karl Popper erkannt.

Wie sind Sie gescheitert?
Permanent über 70 Jahre lang. Das begann damit, dass ich zu klein und zu schmächtig war, um Schwingerkönig zu werden, wie ich mir das als kleiner Bub im Aargauischen Bergdietikon erträumt hatte. Mein Turnlehrer schickte mich deshalb zu den Boxern, weil dort in Gewichtsklassen gekämpft wurde. Für mich war das ein Dämpfer, aber schliesslich fand ich, Boxweltmeister zu werden, sei auch kein schlechtes Ziel. Dann zog ich mir vor den Schweizer Meisterschaften im Training eine Rippenfellquetschung zu. Der Arzt verschrieb mir Schonung für ein halbes Jahr. Ramon, ein spanischer Boxkollege, protestierte und sagte mir, ich solle anfangen, mit Gewichten zu trainieren. Meine Verletzung heilte extrem schnell. Heute wissen wir, dass Krafttraining die anabolen Prozesse, also die Wachstums- und Heilungsprozesse, beschleunigt. Damals, Ende der Fünfzigerjahre, gab es kaum Literatur zu diesem Thema und selbst im Magglingen sagte man mir, Krafttraining sei kein Thema. Die meisten Trainer stellten sich auf den Standpunkt, Krafttraining mache langsam.

So wurden Sie zum Autodidakten?
Ja, ich suchte Literatur zum Thema und fand in Berlin Übersetzungen von russischen Arbeiten. Und ich studierte die Geschichte von Max Unger, der unter dem Pseudonym Lionel Strongfort um 1900 als stärkster Mann der Welt galt. Er konnte mit einem Arm eine 150-Kilo-Hantel hochheben und liess ein zwei Tonnen schweres Auto über seinen Körper fahren. Weil es damals keine Studios fürs Krafttraining gab, kaufte ich bei einem Alteisenhändler 4 Tonnen Stahl für 40 Rappen das Kilo und baute mir mit dem Elektroschweissgerät die ersten Maschinen. Dass ich wenig später ein erstes eigenes Studio im Kreis 4 von Zürich eröffnete, hatte ich einem weiteren Flop zu verdanken. Ich verdiente in dieser Zeit meinen Lebensunterhalt als Verkäufer in einem Waffengeschäft. Von Waffen hatte ich keine Ahnung, aber ich lernte rasch das Verkäuferhandwerk. Bis mir eines Tages der Fehler unterlief, dem spanischen König seine Jagdmunition per Nachnahme zu schicken. Das kostete mich den Job und führte dazu, dass ich ganz auf die Karte Krafttraining setzte.

Sie schreiben etwas verklärend im Rückblick, das Jahr 1967 habe der Welt das Farbfernsehen und das Krafttraining nach der Kieser-Methode gebracht. Dabei ging es zu Beginn nur schleppend voran.
Ja, das ist so. Ich weiss bis heute nicht, warum der Wind plötzlich drehte und alle Leute fit werden wollten. Vielleicht lag es an der Berichterstattung über die Mondlandung und das Training der Astronauten. Jedenfalls kamen plötzlich so viele Kunden, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand. 1972 eröffnete der John Valentine Fitness Club in Zürich, mit Sprudelbad, Sauna und Solarium. Da sah ich mit meiner Alteisenbude ziemlich alt aus, also boten wir all den Schnickschnack auch an – mit dem Effekt, dass die Kunden mehrheitlich herumlagen und kaum noch trainierten. Da entschied ich mich, all die Wellness-Sachen wieder rauszuwerfen. Das kostete mich einen Drittel der Kundenbasis, aber mir war es bedeutend wohler so. Es dauerte ziemlich lange, bis dieser puritanische Ansatz mehrheitsfähig wurde. Die ersten 10 Jahre habe ich eher fürs Geschäft gelebt als vom Geschäft.

Und dann wurde der nüchterne, auf Gesundheit ausgerichtete Ansatz plötzlich zum Selbstläufer?
Die Fitnessbranche erfindet sich permanent neu und propagiert halbjährlich irgendwelche Trends. Die Gesetze der Physiologie und der Biomechanik sind aber sehr stabil. Da braucht es eine philosophische Haltung, die aufrichtig ist und sich auf die Essenz besinnt. Bei Kieser steht die Idee im Zentrum, das Geschäft ist immer nur ein Vehikel dieser Idee, kein Selbstzweck. Bildhaft gesprochen: Wir sind die Astronomen in einem Heer von Astrologen. Kieser hat früh eine eigene Forschungsabteilung betrieben, um den eigenen Ansatz zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wir konzentrierten uns strikt auf den Gesundheitsaspekt und sprechen die Kunden an, die bereit sind, zwei Mal pro Woche eine halbe Stunde lang in aller Nüchternheit etwas für ihr Wohlbefinden zu tun, im Klartext: kurz, aber intensiv zu trainieren. Realistisch betrachtet hat die Evolution kein Interesse daran, dass wir älter werden als 25, das ist unser Ablaufdatum. Danach sind wir aus genetischer Sicht überflüssig. Also müssen wir etwas tun, damit die Muskeln nicht schwinden und die Knochen sich nicht auflösen.

Ab 25 Jahren geht’s abwärts? Das ist keine schöne Botschaft.
Die Maximalkraft und die Knochendichte nehmen beim Menschen bis zum 20. Lebensjahr zu, ab dem 25. Lebensjahr fallen beide Werte kontinuierlich ab. Mit Krafttraining kann diese Tendenz bis etwa 40 kompensiert, danach immerhin markant verlangsamt werden. Deshalb sollten wir zwei Mal pro Woche eine halbe Stunde unsere Kraft trainieren.

Aber Sie neigen schon zu grossspurigen Aussagen. Als Sie in den 1990er-Jahren nach Deutschland expandierten, behaupteten Sie in Inseraten, von den 50 Milliarden Mark, die jährlich zur Therapie von Rückenleiden ausgegeben würden, könnten 40 Milliarden eingespart werden dank Krafttraining. Das sorgte für ziemlichen Ärger.
Ich war selber überrascht, aber die Studien zeigten eindeutig: neun von zehn Rückenoperationen können durch das isolierte Training der Rückenstrecker vermieden werden. Diesen Sachverhalt habe ich an einer Tagung der damaligen deutschen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihrem Tross vorgestellt. Alle waren begeistert – aber geändert hat sich nichts. Niemand lernt gerne freiwillig um: Einzelne Muskeln drücken sich am liebsten vor der Arbeit, indem sie die Arbeit auf die anderen, meist stärkeren Muskeln verteilen. Deshalb ist es wichtig, sie im Krafttraining isoliert maximal zu belasten. Und die Orthopäden und Pharmafirmen verdienten gut an den Rückenbeschwerden, also waren sie wenig erfreut, als ich mit einer einfachen Lösung des Problems auftauchte. Jedes System zielt auf Selbsterhaltung ab durch Kontrolle gegen Innen und Abschottung gegen Aussen. Vom Anästhesisten bis zum Ergotherapeuten leben sechs Fachleute von Rückenoperationen – da hatte niemand auf mich gewartet.

Warum haben Sie sich all den Ärger angetan?
Eigentlich wollte ich mich ja Ende der Achtzigerjahre aus dem Business zurückziehen, einen Bauernhof kaufen und Pferde züchten. Doch dann klingelte mich eines Nachts um 3 Uhr mein Mentor Arthur Jones aus dem Bett und verkündete euphorisch, er habe das Rückenproblem gelöst – mit seiner neusten Erfindung würden 90 Prozent der Probleme verschwinden. Bei jedem anderen hätte ich müde gelächelt, aber Jones war ein Genie. Er hat schon sehr früh mit kurzen, hohen Belastungen grosse Erfolge erzielt. 40 Jahre danach hat sein Ansatz unter dem Begriff «High Intensity Training» Hochkonjunktur.

Sie glaubten dem nächtlichen Anrufer und ergriffen die Flucht nach vorne?
Gabi, meine dritte Ehefrau, arbeitete zu dieser Zeit als Ärztin im Zürcher Triemli-Spital. Wir gingen an die Uni von Florida, wo Jones‘ Maschinen unter harten wissenschaftlichen Bedingungen getestet wurden. Die Resultate waren sensationell. Meine Frau eröffnete 1990 ihre eigene Praxis für Medizinische Kräftigungstherapie. Die Patienten jubelten, die Medien berichteten seitenweise und die Ärzte schimpften. Da die  Patienten nach der Genesung weitermachen wollten mit Krafttraining, lief mein Studio immer besser. Dann schlug mir ein vermögender Kunde vor, er wolle Kieser in Deutschland etablieren. Nach zwei Jahren gab er auf. Weil ich aufgeben für unanständig halte, übernahm ich das Geschäft. Das Studio in Frankfurt lief einigermassen, aber in Hamburg kam kein Mensch – eine Besucherin fragte mich beim Betreten des neuen Studios, ob das eine Kunstausstellung sei. Wir machten mit den ersten beiden Geschäften in Hamburg fast vier Millionen Mark Verlust in den ersten zwei Jahren. Dann drehte der Wind plötzlich, fragen Sie mich nicht, warum.

Und von da an war Kieser eine Erfolgsgeschichte. Sie eröffneten ab 1997 innert sechs Jahren  über 100 neue Studios in Deutschland und Österreich.
Dieses rasante Tempo war nur möglich, weil wir bloss knapp einen Fünftel davon selber betrieben und den Rest im Franchise-System aufbauten. Das ist eine intelligente, aber auch anspruchsvolle Sache: der Franchise-Geber hat die starke Marke und das Know-how, der Franchise-Nehmer übernimmt das unternehmerische Risiko und den Grossteil des Gewinns. Das System hat aber auch Schwächen. Zum einen muss der Franchise-Geber seine Standards rigoros durchsetzen, sonst verwässert die Marke. Das sorgt früher oder später für Spannungen. Und wenn die Geschäfte gut laufen, fragt sich der Franchise-Nehmer früher oder später, warum er 5 Prozent der Erträge abliefern soll, wenn er doch praktisch alles selber macht.

Hat das in der Schweiz zum Zerwürfnis geführt? Da buhlten in den letzten sechs Jahren zwei verschiedene Marken mit praktisch identischem Angebot um Kunden.
Unser Master-Franchisenehmer Jost Thoma verunfallte 2001 nach 12 Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit tödlich. Seine Tochter übernahm das Geschäft und machte ihre Sache angesichts der schwierigen Umstände gut. Aber wir hatten nicht die gleiche Vorstellung von der Weiterentwicklung der Marke Kieser. Als 2010 der Vertrag auslief, beendeten wir die Zusammenarbeit. Sandra Thoma betrieb 19 Kieser-Trainingscenter unter dem Namen Exersuisse weiter, Kieser hatte in der Schweiz noch sieben Studios. Das war für alle Seiten eine unbefriedigende Situation. Nach meinem Rückzug auf Anfang dieses Jahres ist es den beiden neuen Besitzern nun zum Glück gelungen, sich mit Thoma auf eine Übernahme der Exersuisse-Zentren zu einigen.

Was bleibt nun für Sie noch zu tun nach dem Verkauf und dem Rückzug aus dem operativen Geschäft?
Ich verkörpere noch immer die Marke und deren Philosophie. Und ich verfüge über eine unerschöpfliche Neugier. Das hat immer wieder zu Geräte-Neuentwicklungen geführt, etwa fürs Sprunggelenk- oder Beckenboden-Training. Nun setze ich grosse Hoffnungen in ein Trainingsgerät, das Parkinson-Patienten helfen könnte. Der zweite Prototyp steht schon. Und es gibt noch viel zu tun. – achten Sie mal darauf, wie gebückt und schief die meisten Menschen stehen, gehen und sitzen. Alles Probleme, die man mit korrektem Krafttraining lösen kann.

Sie dagegen sehen beneidenswert fit aus für Ihre 77 Jahre.
Das bin ich der Marke Kieser schuldig… Im Ernst, vor acht Wochen habe ich mir auf einer Radtour in Vietnam den Oberarm gebrochen. Die Ärzte waren sehr verwundert, wie schnell ich mich danach wieder normal bewegen konnte. Meine Zellen haben sofort wieder nach Belastung und Aktivität geschrien, sie kennen nichts Anderes. Darüber hinaus hat das Training unserer Muskeln auch Einfluss auf unsere mentale Verfassung, wie die neuste Forschung immer deutlicher zeigt. Die Muskulatur schüttet unter Belastung hormonähnliche Botenstoffe aus, übt also eine Art Weckreize auf das Gehirn aus. Das führt dazu, dass Menschen, die regelmässig trainieren, mental wacher sind und sich mehr zutrauen.

Wie äussert sich das bei Ihnen?
Ich habe im Alter von 71 Jahren einen Master in Philosophie erworben – in Englisch, ganz nach dem Kieser-Motto: der Mensch wächst am Widerstand. Derzeit lerne ich mein drittes Instrument nach Klavier und Schwyzerörgeli: Lap-Steel-Gitarre. Ich bin gerne Dilettant im guten Sinne des Wortes, tauche in neue Welten ein und eigne mir etwas Neues an – das war schon zu Zeiten so, als ich als Unternehmer noch voll gefordert war. Machiavelli schrieb, er habe sich abends den Alltagsstaub von den Kleidern geklopft und sich zurückgezogen, um mit den Toten zu reden. Das kann ich gut nachvollziehen, es gibt noch so viel zu lernen, von den Lebenden wie von den Toten. Mein einziges Problem ist, dass mir allmählich die Zeit davon läuft.

Und was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen? Dass Sie «Europas führender Produzent von Magermasse» waren, wie Sie in einem Interview sagten?
Das interessiert mich nicht. Ich habe meine Lebensziele erreicht und durfte einiges bewegen. Aber der Wind der Geschichte wird alle Spuren verwehen.


22. und 29. Juli 2017