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«Angestellte werden pausenlos vermessen und optimiert»

Nach Bestsellern wie «Mythos Motivation» und «Radikal führen» legt Managementberater Reinhard Sprenger ein Buch vor, das harmlos klingt. Doch was der 62-Jährige in «Das anständige Unternehmen» fordert, dürfte viele Führungskräfte aufschrecken: Sprenger rät etwa zur Abschaffung von Mitarbeitergesprächen, Zielvereinbarungen und betrieblicher Gesundheitsförderung. Die heutige Führungspraxis erhöhe nicht die Leistung, sondern bloss noch den Zynismus-Pegel, bemängelt Sprenger. Das Gebot der Stunde laute: Anstand durch Abstand.

Interview: Mathias Morgenthaler    Fotos: Reto Oeschger


Kontakt und weitere Informationen:
www.sprenger.com


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Reinhard Sprenger hat in Bochum und Berlin Geschichte, Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Nach Abschluss der Dissertation in Philosophie arbeitete er beim Kulturministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und bei 3M, wo er die Personalentwicklung leitete. Seit 1990 ist er als Referent, Buchautor und Unternehmensberater tätig. Er schrieb Bestseller wie «Mythos Motivation» und «Radikal führen» und zuletzt «Das anständige Unternehmen».
Reinhard Sprenger hat vier Kinder und wohnt in Winterthur. Der 62-Jährige ist ein passionierter Musiker, nimmt Gesangsstunden, spielt Gitarre in zwei Formationen und komponiert und textet Songs.

Herr Sprenger, Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch, in Unternehmen herrsche eine «tyrannische Zudringlichkeit». Was meinen Sie damit?
Angestellte in grösseren Unternehmen werden heute pausenlos befragt, vermessen, gesteuert, optimiert und fürsorglich belagert. Dadurch gehen Frei- und Spielräume verloren, die Transaktionskosten explodieren, der Kunde und damit der Unternehmenszweck gerät aus dem Blick, unternehmerisches Handeln wird erstickt. Viele Unternehmen sind dermassen zugepackt mit Erniedrigungsbürokratie, dass die einzelnen Mitarbeiter kaum mehr atmen, geschweige denn etwas Eigenständiges schaffen können.

Ihr Gegenentwurf dazu ist «das anständige Unternehmen». Dieser Buchtitel klingt nach Bestsellern wie «Mythos Motivation» oder «Radikal führen» ziemlich bieder.
Ja, das gebe ich gerne zu. Der Vorteil des Begriffs Anstand ist allerdings, dass die meisten Menschen intuitiv eine Vorstellung davon haben, was anständig ist und was nicht. Im Grunde ist dieses wohl mein radikalstes Buch. Manager kämpfen ja zu 90 Prozent ihrer Zeit mit Problemen, die sie selber geschaffen haben. Es kommen bekanntlich immer neue Methoden und Marotten dazu und nur ganz selten sagt jemand: «Das machen wir jetzt nicht mehr.» Deshalb ist die Frage elementar, was wir weglassen und abschaffen sollten, um fit zu sein für die Wirtschaft 4.0. Wir sollten uns trennen von dem Managementfirlefanz, der in den letzten Jahren angeschwemmt wurde.

Woran denken Sie konkret?
Ich schreibe an gegen die psychosoziale Zudringlichkeit, die uns am Arbeitsplatz verformt, und plädiere für ein Menschenbild «Anstand durch Abstand». Es geht mir um das Verhältnis von Nähe und Distanz, von Aktivität und Gelassenheit. Ein humanes Verhalten hält sich zurück, tritt niemandem zu nahe, will niemanden peinlich berühren. Es nimmt Begriffe wie Erwachsensein wieder ernst, Eigenverantwortung, Stolz, Ehre, Würde. Unter der Perspektive des Anstands darf man den Menschen nicht als blosses Mittel betrachten. Sondern, frei nach Kant, immer auch als Zweck. Weder im Unternehmen noch sonst wo. Zum Beispiel auch nicht an den Schulen, wo heute Bildung neugierfeindlich auf die Produktion von Humankapital reduziert wird. Wenn man ein anständiges Unternehmen will, dann ist es eine der edelsten Aufgaben einer Führungskraft, vieles von dem wegzulassen, was heute als unverzichtbar gilt.

Aus welchem Grundgefühl heraus schreiben Sie Ihre Bücher?
Bei «Mythos Motivation» war es eindeutig der Zorn. Ich war wütend über das Menschenbild der Manager, die mit Boni und Incentives winken und ihre Mitarbeiter zu Reiz-Reaktions-Automaten machten. Ein solch verächtliches Denken widerspricht meiner Auffassung vom Menschen als Freiheitswesen. Der Zorn hat sich in den 23 Jahren seit Erscheinen von «Mythos Motivation» nicht gelegt. Er ist eher noch gewachsen. Die Techniken der Infantilisierung und Therapeutisierung richten heute noch mehr Schaden an, weil sie freundlich maskiert sind. Vordergründig wird der Mitarbeiter unterstützt, tatsächlich aber bevormundet. Das ist weder betriebswirtschaftlich noch moralphilosophisch zu vertreten.

Ihr neues Buch ist für Ihre Zielgruppe eine Provokation. Ist das nicht schädlich fürs Beratergeschäft?
Doch, das ist absolutes Kassengift. Es gibt ja in jeder grösseren Organisation ganze Stäbe, die sich mit dem beschäftigen, was meiner Meinung nach dringend abgeschafft werden sollte. Und obwohl alle Manager pausenlos das Wort «disruptiv» verwenden, dominiert die Reparaturintelligenz. Man baut aber keine Unternehmen von morgen mit den Instrumenten von gestern. Wer an Höhe gewinnen will, muss Ballast abwerfen.

Wie erkennt man, was notwendig ist und was Ballast?
Das anständige Unternehmen ist kein Selbstzweck. Es ist eine Arbeitsgemeinschaft, die dafür da ist, das Leben der Kunden leichter, besser, schöner zu machen. Das entscheidende Kriterium ist also immer der Kunde. Will er das? Braucht er das? Bezahlt er das? Diese Perspektive wird oft vergessen. Viele Unternehmen beschäftigen sich immer mehr mit sich selbst, werden zunehmend autistisch. Es wuchert ein interner Markt der Planung und Kontrolle, der immense Bürokratiekosten erzeugt, uns aber draussen beim Kunden keinen Zentimeter weiter bringt. Die Manager rufen ihren Mitarbeitern zwar ständig zu «Sei Unternehmer! Sei innovativ!», aber gleichzeitig entmündigen sie sie mit der Aufforderung zu einem 360-Grad-Feedback, wo es im Wesentlichen darum geht, einander nicht auf die Füsse zu treten.

Sie schildern im Buch Ihr Erlebnis beim Autokauf. Am Ende legt Ihnen die Verkäuferin einen Feedback­fragebogen vor und bittet Sie, die Kreuzchen doch bitte ganz rechts zu machen, weil sie sonst ihren Bonus nicht bekomme und die Niederlassung sich intern rechtfertigen müsse.
Ja, das ist tragischerweise Standard in der Autoindustrie. Da wird die Mitarbeiterin dazu erniedrigt, sich in beschämender Weise vom Kunden bewerten zu lassen. Das ist obszön, auch gegenüber dem Kunden. Will ich verantworten, wenn die Verkäuferin weniger Geld bekommt? Es ist bestenfalls kurios, was da für Unfug betrieben wird. Dazu gehört zum Beispiel auch das Kopfgeld, das manche Unternehmen ihren Angestellten für die Anwerbung eines neuen Kollegen bezahlen. Wer annimmt, dass Mitarbeiter ihren Kollegen nur für Geld empfehlen, im gleichen Betrieb zu arbeiten, hält sein Unternehmen für unwürdig. Und er korrumpiert seine Angestellten – sie tun es dann nicht, weil sie es für sinnvoll halten, sondern weil es die eigene Brieftasche aufbessert.

Warum greifen so viele Manager zu wenig sinnvollen Massnahmen?
Der Manager ist ein Differenzgenerator. Wenn er den Blick auf seine Firma oder seine Abteilung richtet, sieht er im Wesentlichen ein Defizit, eine Differenz zwischen Soll und Ist. Sollte er keine Differenz sehen, bringt er eine mit. Die Differenz rechtfertigt seine Aktivität, sie ist der Kern seines Geschäftsmodells. Dann beginnt er, an den Leuten rumzuschrauben, weil er glaubt, der Mensch als weicher Faktor sei am leichtesten zu beeinflussen. Dabei ist der Mensch, wie wir aus der Wissenschaft wissen, der harte Faktor und die Institution der weiche. So arbeitet sich der Manager in therapeutischer Weise am Menschen ab und lässt den institutionellen Rahmen ausser Acht. Vor allem aber sich selbst! Er versucht dem Mitarbeiter Motivation einzuimpfen, ohne die demotivierenden Rahmenbedingungen zu erkennen. Damit erhöht er nicht die Leistung, sondern bloss den Zynismus-Pegel im Unternehmen.

Die Angestellten werden zynisch, weil man sie nicht in Ruhe ihren Job machen lässt?
Ein Beispiel unanständiger Zudringlichkeit ist der Feedback-Boom. Muss ich mir permanent von irgendwem sagen lassen, was er von mir hält? Nur vom Feedback könne man lernen, heisst es dann sofort. Das ist Unfug! Sie können daraus nur lernen, wie ein anderer auf Sie reagiert. Und das sagt mehr über diesen anderen aus als über Sie. Sie lernen höchstens, ob Sie bei ihm gute Karten haben. Deshalb drängt ja diese ganze Feedbäckerei so massiv zur Konformität, zur Gleichmacherei. Mitarbeiter lernen, sich so zu verhalten, dass sie gutes Feedback bekommen. Glauben Sie, dass Sie mit hoch angepassten Menschen den Wettbewerb der Zukunft gewinnen? Wir sollten die Menschen nicht für ihre Konformität belohnen, sondern für ihre Initiative.

Gehören Mitarbeitergespräche demnach abgeschafft?
Ja. Es braucht den permanenten Dialog, aber ein jährlich aufgezwungenes, standardisiertes Feedbackgespräch richtet eindeutig mehr Schaden an, als dass es nützt.

Damit bleiben aber auch die Ziel­vorgaben oder Zielvereinbarungen auf der Strecke.
Wird ein Zielsystem eingeführt, dann geht es nicht mehr darum, eine Aufgabe zu erfüllen, sondern ein Ziel zu erreichen. Die Aufgabe selbst wird zur Hürde, die man am liebsten überspringen oder umgehen würde, um das Ziel zu erreichen. Die Aufgabe wird zum Mittel, das Ziel wird zum Zweck. Das ist die systematische Erzeugung von Sinnlosigkeit. Und wie kann man von Kundenorientierung sprechen, wenn man den Mitarbeitern Umsatzvorgaben macht? Ziele kann man nur vertreten, wenn das Unternehmen zum Selbstzweck geworden ist. Umsatz und Gewinn sollten die Folge unternehmerischen Handelns sein, nicht ihr Ziel.

Unternehmen können doch kein Ort der puren Selbstverwirklichung sein. Sie sagten selber, Aufgabe der ­Führung sei es, Zusammenarbeit zu organisieren. Warum soll das nicht über Zielvereinbarungen ­erreicht werden?
Das Führen mit Zielen lädt zu kurzfristigem Aktionismus ein, läuft meist auf entwürdigende Ziel-Diktate hinaus, verengt die Verantwortung auf individuelle Ziele und macht damit Kollegen zu Gegnern. Zusammenarbeit sieht anders aus. Überdies: Wenn eine Fussball-Mannschaft ein Spiel gewinnen will, starrt sie dann permanent auf die Anzeigetafel? In einem anständigen Unternehmen führt der Kunde das Unternehmen, nicht die oberste Führungsetage. Deshalb müssen Unternehmen auch scheitern und zugrunde gehen können. Ein Unternehmen, das eine Staatsgarantie erhält oder subventioniert wird, lebt zulasten unbeteiligter Dritter und ist deshalb unanständig.

Sie kritisieren auch Firmen, die Mitarbeiter vor der Selbstausbeutung zu schützen versuchen, indem sie etwa den Mailzugang am Abend oder am Wochenende sperren. Was ist daran auszusetzen?
Es ist erniedrigend, jemandem zu unterstellen, er sei nicht in der Lage, sich abzugrenzen und Nein zu sagen. Natürlich ist es ein Problem, wenn manche Mitarbeiter nicht abschalten können oder wollen. Aber der Preis, den wir für Zwang bezahlen, scheint mir viel zu hoch zu sein. Es ist interessant zu sehen, dass sich ausgerechnet das Skandal­unternehmen VW radikal fürsorglich zeigt und die Server abends und an Wochenenden abschaltet. Das ist kein Zufall, denn gerade bei VW gab und gibt es interessierte Subsysteme, welche die behauptete Hilflosigkeit der Leute ausbeuteten. Die IG Metall und andere Betriebsräte, aber auch viele Manager brauchen die Schwäche der Mitarbeiter, um eine Existenzberechtigung zu haben.

Von Gesundheitsförderung sollten Firmen auch die Finger lassen?
Niemand weiss, was Gesundheit ist. Ein Gesunder ist bekanntlich ein schlecht untersuchter Kranker. Im Vordergrund sollte also stehen, die Arbeitssicherheit zu erhöhen und Negatives zu vermeiden, also Krankheit. Gesundheitsförderung hingegen ist das Einfallstor für jede Form von Bevormundung. Unternehmen wie Google halte ich für unanständig, sie zielen als Business-Sekten auf Total-Inklusion der Mitarbeiter. Solche Unternehmen wollen 7 mal 24 Stunden Hand, Herz und Hirn der Angestellten besetzen und rufen ihnen zu: «Es ist alles da, du brauchst den Campus gar nicht mehr zu verlassen, auch deine Hobbys und Freunde sind im Unternehmen.» Am klarsten kommt das auf der Stirnseite der neuen Facebook-Hauptverwaltung zum Ausdruck, wo in riesigen Lettern steht: «Unsere Arbeit endet nie.» Klarer kann man es nicht sagen.

Dabei wirkt das im Fall von Google alles so nett und verspielt.
Das ist das Perfide. Viele dieser Dinge kommen dermassen menschenfreundlich daher, dass man zunächst grosse Mühe hat, den nicht-anständigen Kern freizulegen. Ich ernte immer wieder Empörung, wenn ich zum Beispiel sage: Schafft die Mitarbeiterbefragung ab. «Aber wir interessieren uns doch für die Meinung der Leute», entgegnen mir dann die Personalmanager. Dann frage ich sie, warum diese Angestellten sich nicht von selber äussern, sondern genötigt werden, zu antworten – oft genug noch unter Zusicherung der Anonymität. Was ist das für ein Menschenbild und was für eine Unternehmenskultur, wenn die Wahrheit nur auf Aufforderung und unter dem Deckmantel der Anonymität geäussert werden darf?

Ihre These lautet also: Das, was angeblich zur Förderung und zum Schutz der Mitarbeiter unternommen wird, hält die Menschen klein?
Es ist erschreckend zu sehen, wie erwachsene Leute, die Freundeskreise organisieren, Kinder erziehen, Häuser bauen und Vereine leiten, sich infantilisieren lassen, sobald sie durch die Pforten des Unternehmens gehen. Das, was in den Unternehmen stattfindet mit der Begründung der Optimierung, Effizienzsteigerung, Transparenz etc., sind Vorläufer einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hin zum Therapiestaat. Das ist eine steile These, ich weiss, aber sie ist deswegen nicht falsch. Sehen wir nicht, dass viele Bürger die Verantwortung für ihre private Lebensführung am liebsten an staatliche Institutionen abtreten würden? Ich wünsche mir, dass meine beiden Söhne im Grundschulalter dereinst eine Arbeitswelt vorfinden, in der Begriffe wie Vertrauen, Respekt, Eigeninitiative, Unternehmertum und eben Anstand wieder ernst genommen werden. Sonst kommt das wichtigste Bindemittel eines Unternehmens und einer Gesellschaft abhanden – die Menschlichkeit.


13. Februar 2016