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«Vermutlich war es hilfreich, dass wir keine Ahnung hatten»

Die britische Firma Innocent dominiert seit Jahren den Smoothie- und Fruchtsaftmarkt. Lanciert wurde die Erfolgsgeschichte vor 17 Jahren in den Schweizer Bergen. Mitgründer Richard Reed erinnert sich im Interview an den schwierigen Start und erläutert, warum es richtig war, gegen die Branchengesetze zu verstossen. Heute produzieren die 350 Innocent-Mitarbeiter 2 Millionen Flaschen pro Woche.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.innocentsmoothies.ch


Herr Reed, wie wurden Sie zum Unternehmer?
RICHARD REED: Es gab ein paar prägende Erlebnisse in meiner Kindheit. Meine Mutter sagt, ich sei schon mit sechs oder sieben Jahren bei den Nachbarn Fenster putzen gegangen, um ein wenig Geld zu verdienen. Als 16-Jähriger jobbte ich in einer Hundefutterfabrik, wo ich zwei britische Pfund (rund vier Franken, die Red.) pro Stunde verdiente. Ich musste auf allen vieren am Boden kriechen und von Hand die Hundebiskuits aufheben, die runtergefallen waren. Mir kam das absurd vor, also ging ich zum Chef und sagte ihm, ich bräuchte einen Besen. Der antwortete: «Du bist hier der Besen.» Damals wurde mir klar, dass es besser ist, sein eigener Boss zu sein.

Haben Sie sich nach der Schule gleich ins Abenteuer Selbstständigkeit gestürzt?
Nach dem Hundefabrik-Trauma baute ich ein kleines Gartenbusiness auf. Ich bot alle möglichen Gartenarbeiten an, verteilte Flyer in der Nachbarschaft – und hatte bald so viel zu tun, dass ich Freunden Aufträge weitergeben konnte. Da ich gleichzeitig sehr wissbegierig war, schrieb ich mich an der Uni zum Geografiestudium ein. Ich lernte Adam und John, die späteren Mitgründer von Innocent, kennen; wir wurden Freunde. Nach dem Studium, als wir alle ganz seriös wichtige Jobs in Unternehmensberatungen und Werbeagenturen verrichteten, verbrachten wir immer mal wieder ein Wochenende zu dritt und diskutierten über verrückte Projekte. Am Montag strampelten wir uns jeweils wieder in unseren Jobs ab. Dann kam dieses Snowboard-Wochenende im Februar 1998 in Davos und ich sagte zu Adam und John: «Entweder wagen wir jetzt etwas oder wir begraben all diese Ideen für immer.»

Und da entstand in den Schweizer Bergen die Idee, Fruchtsäfte und Smoothies zu produzieren?
Ja, wir wollten etwas Natürliches, Gesundes herstellen. Aber ehrlich gesagt war das Business zweitrangig. Im Vordergrund stand die Idee, zu dritt als Freunde etwas aufbauen zu können. Mein Job damals war okay, aber ich war an dem Punkt, wo die Angst, in 20 Jahren immer noch das Gleiche zu tun, grösser war als die Angst davor, mit etwas Neuem zu scheitern. Wir rechneten nicht wirklich damit, dass die Sache ein Erfolg wird. Die meisten Start-up-Projekte scheitern. Bei uns kam dazu, dass wir nun wirklich keine Ahnung von der Lebensmittelindustrie hatten. Aber wir hatten grosse Lust auf ein gemeinsames Abenteuer.

Wie haben Sie losgelegt?
Wir kauften für 500 britische Pfund Früchte, mixten diese und füllten die selber kreierten Getränke in 1000 kleine Flaschen ab. Wir verkauften die Eigenproduktion dann im Sommer an einem Jazz-Festival in London, stellten zwei Sammelbehälter für die leeren Flaschen vor den Stand, der eine mit NO, der andere mit YES beschriftet. Vor dem Stand hatten wir ein Schild angebracht mit der Frage: «Sollen wir unsere Jobs aufgeben, um weiter Smoothies zu machen?» Am Sonntagabend war der Ja-Eimer randvoll, im Nein-Behälter lagen nur ein paar wenige Flaschen, vermutlich hatten unsere Eltern die dort reingeworfen. Für uns war die Sache klar. Am Montag kündigten wir unsere Jobs und gründeten Innocent.

Wann wurde Ihnen klar, auf was Sie sich da eingelassen hatten?
Die ersten 15 Monate waren verdammt schwierig. Es fehlte an allem, an Know-how, an Partnern, an Produktionsstätten. Niemand nahm uns ernst, wir waren zu jung, zu unerfahren, hatten kein Geld. Zudem sagten uns alle Experten, pure naturbelassene Smoothies zu produzieren, sei unmöglich, ohne künstliche Aromen, Konservierungsstoffe und Fruchtkonzentrate laufe gar nichts in dieser Branche. Es sah lange wie eine «mission impossible» aus. Zwei Dinge liessen uns durchhalten: dass die Konsumenten unsere Produkte von Anfang an mochten; und dass wir zu dritt waren, die Verantwortung also auf sechs Schultern verteilen konnten.

Wie gelang der Durchbruch?
Es war eine Mischung aus Naivität, Beharrlichkeit und Gestaltungslust. Auch wenn es am Anfang wie ein grosses Handicap aussah: Vermutlich war es hilfreich, dass wir keine Ahnung von der Branche hatten. Zahlreiche Unternehmen sind viel zu sehr mit sich selber beschäftigt und haben deshalb kein gutes Gespür für die Gesellschaft und die Kunden. Wir holten die Kunden schon vor der Firmengründung ins Boot an diesem Jazzfestival und stützten uns in der Folge hauptsächlich auf Kundenfeedbacks und unsere Werte: Innocent sollte für Unschuld, aber auch für Natürlichkeit stehen. Das betraf nicht nur die Produktion, sondern auch die Kommunikation. Die Etiketten auf unseren Flaschen unterschieden sich von Anfang an deutlich von jenen der Konkurrenz. Sie trugen unsere Handschrift und zeigten, dass wir Spass hatten bei dem, was wir taten, und dass uns der Dialog mit den Kunden wirklich wichtig war. Die Industrie hat in der Regel nicht das Ziel, den Kunden happy zu machen, sondern die Prozesse für sich selber möglichst einfach zu halten. Für uns war ohnehin alles schwierig, da wir es von Grund auf neu lernten, also wollten wir es gleich richtig gut machen.

Geld brauchten Sie trotzdem.
Wir holten uns im ersten Jahr so viele Absagen von Banken und Investment-Gesellschaften, dass wir der Verzweiflung ziemlich nahe waren. Schliesslich verschickten wir in unserem Kollegen- und Bekanntenkreis ein Mail mit der Frage, ob jemand eine reiche Person kenne. Tatsächlich meldete sich ein alter Schulfreund und brachte uns in Kontakt mit einem 70-jährigen Amerikaner, der eine Viertelmillion Pfund investierte und uns so die erste grössere Produktion ermöglichte. Von da an nahm das Ganze Fahrt auf. Adam kümmerte sich um die Deals und den Verkauf, John sorgte dafür, dass in der Fabrik alles perfekt lief, und ich war für die Rezepte und die Entwicklung der Marke verantwortlich.

Heute ist Innocent in 16 europäischen Ländern präsent, in der Schweiz liegt der Marktanteil gemäss Ihren Angaben bei 65 Prozent, in Grossbritannien sogar bei 75 Prozent. Profitieren Sie davon, als Erste ganz auf die Karte Smoothies gesetzt zu haben?
Nein, wir waren nicht die Ersten, aber die Kompromisslosesten. Als wir 1999 auf den Markt kamen, hatte die Konkurrenz teilweise schon fünf Jahre Erfahrung gesammelt. Aber alle setzten auf Fruchtkonzentrate, wir auf pure Früchte. Heute sucht einer der besten Agronomen Europas für uns die exzellentesten Früchte aus, 350 Mitarbeiter helfen bei der Verarbeitung und Distribution. Wir verdünnen die Früchte nicht, wir garantieren, dass keine Pestizide zum Einsatz kommen und dass die Früchte unter fairen Bedingungen produziert und geerntet werden. So verkaufen wir inzwischen 2 Millionen Smoothies pro Woche und sind damit klar die Nummer 1 in Europa.

Schön und gut, aber warum haben Sie die Firma zwischen 2009 und 2013 in drei Etappen an Coca-Cola verkauft? Der Getränke-Multi ist nicht in erster Linie für gesunde, natürliche Getränke bekannt.
Unsere Mission war, die Welt ein wenig natürlicher und gesünder zu machen. Und Coca-Cola hilft, dieser Bewegung noch mehr Kraft zu verleihen. Wir haben uns die Aufgabe nicht leicht gemacht und uns mit sehr vielen Kaufinteressenten zusammengesetzt. Die Leute von Coca-Cola waren die einzigen, welche die DNA von Innocent verstanden und das Geschäft in unserem Sinne weiterführen wollten. Wir haben beispielsweise von Anfang an 10 Prozent unseres Gewinns für wohltätige Zwecke gespendet. Viele Interessenten wollten das sofort stoppen und das Geld als Dividende an die Besitzer auszahlen. Die Manager von Coca-Cola hatten keine solchen Pläne, es gab keinen Kurswechsel bei den Werten und im operativen Geschäft. Zudem ist Coca-Cola zu drei Vierteln im Segment Mineralwasser, Null-Kalorien-Getränke und Fruchtsäfte tätig, das passt also ganz gut.

Die drei Gründer besitzen seit dem Verkauf je ein Prozent von Innocent, 97 Prozent gehören Coca-Cola. Wie viel verbindet Sie noch mit dem Unternehmen, das Sie gegründet haben?
Emotional ist die Verbindung sehr eng. Ich sehe die Firma noch immer als unser Baby, bin Teil der Familie und helfe beim Wachstum. Wir haben aber kurz vor dem Verkauf einen sehr guten CEO eingesetzt, sodass wir nicht mehr ins operative Geschäft eingebunden sind. Ich kann mich nun noch stärker um die Wohltätigkeit kümmern, als Geschäftsführer der Innocent-Stiftung und Mitgründer der Reed-Page-Foundation, die sich in der Friedensförderung und im Umweltschutz engagiert. Mit John und Adam habe ich die Firma Jam Jar Investments gegründet, einen Kapitalfonds, der junge Unternehmer, die ein nachhaltiges Business aufbauen wollen, mit Rat und Geld unterstützt. Schliesslich habe ich das Outdoor-Kunstprojekt «Art everywhere» mitbegründet und unsere Regierung in Sachen Unternehmertum beraten dürfen. Nach den vielen 70-Stunden-Wochen für Innocent bin ich sehr glücklich über diesen bunten Strauss an Aufgaben und Projekten. Mein Leben ist im Moment perfekt. Die wichtigsten zwei Dinge verdanke ich der Schweiz: In der Davoser Bergwelt wurde die Innocent-Idee geboren und nun habe ich mich auch noch in eine Schweizerin verliebt.


21. November 2015